Der Blick in die Tiefe der Zeit

Michaela Haberkorn begibt sich auf die Suche nach den poetologischen Verfahren literarischer Klassiker in ihrer Bewältigung der Naturgeschichte

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter dem Titel "Naturhistoriker und Zeitenseher" liegt die Dissertation der Sprachwissenschaftlerin und Wissenschaftshistorikerin Michaela Haberkorn als Reihenpublikation neben anderen Beiträgen zur deutschen Literaturwissenschaft vor. Leider scheint die Arbeit mehr oder minder eine direkte Übernahme der zugrundeliegenden Qualifikationsarbeit zu sein - leider. Denn was Michaela Haberkorn mit ihrem Thema anging, war etwas Großes: Die Verschränkung von "Geologie und Poesie um 1800", so der gleichnamige Untertitel, bezeichnet nichts weniger als das diskursive Feld des Einbruchs der "Tiefenzeit" (McPfee) unter gleichzeitiger Berücksichtigung der zugehörigen "poetologischen" Strategeme (Joseph Vogl). Dies meint die Versuche der Umsetzung von nichtvorstellbaren Zeitdistanzen im Roman, der Lyrik und kosmologischer Abhandlungen. In den Werken Novalis', Alexander von Humboldts und nicht zuletzt Goethes, die allesamt mit dem Geognostiker Abraham Gottlob Werner in Verbindung standen oder gar bei ihm an der Bergbauakademie in Freiberg studierten, finden sich entsprechende Versuche: entweder die neue Zeit der Erde mithilfe räumlicher Analogien und Ordnungsmuster vorstellbar zu machen respektive deren Unvorstellbarkeit zu kompensieren, oder sich dem Problem der Erdentstehung und -geschichte, d. h., der Veränderung der Formen, zuzuwenden. All dies, so die treffende Diagnose von Haberkorn, ist in der deutschen Romantik miteinander verschränkt. Vor allem die von Werner vertretene These einer Ausfällung der Mineralien aus dem Urmeer (später sogenannter "Neptunismus") und die Frage um die Gleichförmigkeit oder Ungleichförmigkeit der naturgesetzlichen Entwicklung trieb die holistischen Denker jenes Epochenbruchs um.

Die vorliegende Arbeit vergibt jedoch die Chance, das einschlägige Material so zusammenzustellen, dass es zu einer Beschreibung der epistemischen Konfiguration führt. Stattdessen werden sukzessive entlang der Namen von Naturforschern und Dichtern die relevanten Inhalte ihrer betreffenden Schriften referiert. Der Anfang stellt dahingehend die Positionen von Buffon und Cuvier, Hutton und Lyell vor, ohne dabei auch nur in einem Moment an der nachträglichen Kanonisierung der Geologie zu zweifeln. Wie Stephen J. Gould in seinem Standardwerk "Time's Arrow - Time's Circle" von 1987 gezeigt hat, sind die Positionen der Naturhistoriker und die Differenzen zwischen ihnen weniger eindeutig, als es die Gegenüberstellung von Katastrophisten und Uniformitariern glauben machen möchte. Tatsächlich sind die Kategorisierungen in Bibeltreue und Atheisten auch wenig brauchbar für die Beschreibung der Poesie um 1800. Längst bekannte werkbiografische Angaben zu Novalis und Goethe füllen die Seiten und lassen die Hauptkapitel der Arbeit wie kleine Einzelaufsätze aussehen. Spätestens hier vermisst man auch eine Vermittlung der Faszination, welche die Autorin zu ihrem Thema geführt haben muss und dessen effiziente Durcharbeitung und konzeptuelle Verschränkung somit weiterhin ein Desiderat darstellt. Dies ist sehr schade, zumal das Zusammentragen und Sichten des zugrundeliegenden Materials einen erheblichen Aufwand darstellt, der den Rahmen von fachlich begrenzten Arbeiten erheblich übersteigt. Für eine interdisziplinäre Qualifikationsarbeit mag das zunächst auch reichen, für deren Veröffentlichung ist es noch zu wenig.

Titelbild

Michaela Haberkorn: Naturhistoriker und Zeitenseher. Geologie und Poesie um 1800. Der Kreis um Abraham Gottlob Werner. (Goethe, A. v. Humboldt, Novalis, Steffens, G. H. Schubert).
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
335 Seiten, 56,50 EUR.
ISBN-10: 3631521715

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch