Das Verstummen der Bücher

"Die kleine Kartäuserin" von Pierre Péju

Von Christian SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch ist es nicht fünf Uhr abends. Noch könnte die Geschichte einen anderen Verlauf nehmen. Aber so sicher wie die Zeit voranschreiten wird, so sicher wird auch der kurze Roman von Pierre Péju seinen traurigen Anfang finden. Um Punkt fünf Uhr wird ein kleines Mädchen namens Eva über die Straße laufen. Im selben Moment wird der Buchhändler Etienne Vollard auf regennasser Fahrbahn seinen Lieferwagen nicht rechtzeitig zum Stillstand bringen können. Das Mädchen wird schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht werden. Nach einer schwierigen Operation wird sie im Koma liegen.

Vollard, ein riesiger Mensch und zurückgezogener Eigenbrötler, trifft im Krankenhaus auf Thérèse, die Mutter von Eva. Diese ist nicht in der Lage, das Schicksal ihrer Tochter zu ertragen, sie fühlt sich seit jeher vom Leben überfordert und von ihren Rollen zwischen alleinerziehender Mutter, wechselnden Männerbekanntschaften und Jobsuche ausgezehrt. So ist es Vollard, der sich stundenlang an das Bett des Mädchens setzt und schließlich beginnt, ihr Geschichten vorzutragen. Dank seines erstaunlichen Textgedächtnisses, mit dem er jedes gelesene Wort schon seit seiner Kindheit behält, verfügt er über einen unermesslichen literarischen Reichtum. Und so schafft es der zeit seines Lebens mit sich selbst und seinen Büchern Beschäftigte, mithilfe der Literatur dem Mädchen nahe zu kommen. Schließlich geschieht das Wunderbare: Eva erwacht aus dem Koma.

Doch sie kehrt aus dem Koma ohne Sprache zurück. Verstummt kommt sie in ein Rehabilitationszentrum in der wild-romantischen Landschaft der "Grande Chartreuse", in der sich ein abgeschiedenes Kartäuser-Kloster befindet. Eva findet nicht mehr zurück in die Welt. Als sie schließlich stirbt, schwindet auch Vollards Lebenskraft und sein erster Schritt in den Abgrund wird "sein erster Schritt in das Vergessen der Bücher."

Pierre Péjus trauriger, leiser Roman wurde bei seinem Erscheinen in Frankreich vor drei Jahren mit großer Begeisterung aufgenommen. Die Geschichte des einsamen Buchhändlers, der die Balance zwischen der Literatur und dem eigenen Leben wagt und aus dem Gleichgewicht gerät, besticht durch ihre eindringliche Sprache, die sich aus dem Erbe der Weltliteratur ganz ohne Ironie und Sarkasmus bedienen kann. Die Angst vor dem Tod ist für den Buchhändler Vollard auch eine Angst vor dem Tod der Literatur, vor den postmodernen Schreibern mit ihren "parodistischen Veränderungen, die nichts mehr wirklich verändern." Die Großen der Weltliteratur von den Märchen Perraults zu Hans Christian Andersen, von Goethe bis Borges sind es, die den Schrecken des Todes und das Koma besiegen. Dieser Sieg vermag aber nicht die Einsamkeit zu überwinden. Am Ende bleibt nur das Verstummen vor der Welt.

Titelbild

Pierre Péju: Die kleine Kartäuserin. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Elsbeth Ranke.
Piper Verlag, München 2005.
190 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3492046193

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