Leise Klänge in Zeiten des großen Schwätzens

Gedichte aus dem Nachlass von Luisa Famos

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Zürcher Limmat Verlag gebührt einmal mehr ein nachdrückliches Lob für seine Bemühungen, durch eine zweisprachige Ausgabe ein bemerkenswertes lyrisches Werk unter den deutschsprachigen Lesern bekannter zu machen. Im vergangenen Herbst erschien zum 30. Todestag ein Band mit Gedichten aus dem Nachlass der rätoromanischen Dichterin Luisa Famos (1930-1974). Luisa Famos würde diesen Sommer 75 Jahre alt, doch ist sie lange vor der Zeit an einer schweren Krankheit gestorben. Geblieben sind Bilder: Luisa Famos war 1962 Moderatorin der ersten Schweizer Fernsehsendung in rätoromanischer Sprache und lebt allein schon deshalb in der Erinnerung vieler fort. Geblieben ist aber auch die Kraft ihrer poetischen Bilder. Ihr früher Tod und die öffentliche Präsenz haben zweifellos dazu beigetragen, dass Luisa Famos in ihrer Heimat, dem Engadin, zu einer Kultfigur geworden ist.

Luisa Famos hat als Grundschullehrerin an verschiedenen Orten im rätoromanischen Sprachraum sowie in der Deutschschweiz unterrichtet. Zwischendurch studierte sie in Paris ein Jahr Literatur. Mit ihrem Mann, dem Ingenieur Jürg Pünter, lebte sie eine Zeitlang in Honduras und Venezuela, bevor sie in die Schweiz zurückkehrte. Luisa Famos war eine Dichterin, die nur wenig hinterlassen hat: Zwei schmale Bände, "Mumaints" (Momente, 1960) und "Inscunters" (Begegnungen, posthum) hat sie selbst zusammengestellt. Nur etwa 50 Gedichte sind es insgesamt, aber sie gehören zum Berührendsten und Feinsten, was Schweizer Lyrik im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Unter dem Titel "Poesias" (Gedichte) wurden beide Bände Mitte der 90er Jahre vom Zürcher Arche Verlag neu aufgelegt und um eine deutsche Übersetzung ergänzt.

Luisa Famos hat ihre Gedichte in Vallader, der Sprache ihres heimatlichen Unterengadins, geschrieben. Das Vallader ist neben dem Surselvischen des Bündner Oberlandes an der Rheinquelle auch heute noch die vitalste Variante des Bündnerromanischen. Zusammen etwa mit Andri Peer (1921-1985) hat Luisa Famos die Dichtung in diesem Idiom in die Moderne geführt. Freie Verse, die oft ohne Reime auskommen: Für die Leserschaft einer Kleinstsprache, die von der Literatur vorab das Bewahren von Traditionen erwarten mag, waren auch formale Neuerungen zunächst durchaus gewöhnungsbedürftig. Luisa Famos hat mit ihrem Werk das schöpferische Potenzial ihrer Sprache jedoch eindrücklich unter Beweis gestellt.

Was an Luisa Famos' Gedichten gerade heute (wieder) berührt, ist ihre - freilich mitunter nur vermeintliche - Schlichtheit, jedenfalls aber ihre äußerliche Knappheit, das Unaufgeregte, die leisen Töne, das Nachwirken des Klangs. Auch kommt die Dichterin mit einem vergleichsweise knappen Vokabular und mit einem eingeschränkten Themenbereich aus: Immer wieder kreisen ihre Gedichte um den Herbst, den Tod, die Liebe. Sie sind im Zentrum der rätoromanischen Welt angesiedelt: Im Haus, im Dorf, auf dem Feld, beim Kirchturm. Gerade in Zeiten des großen Kommunizierens und Schwätzens - auch in der Literatur - kann man diese Qualitäten nicht genügend hervorheben.

Den nun vorliegenden Band mit Gedichten aus dem Nachlass hat Mevina Puorger, Romanistin, Übersetzerin und Herausgeberin, besorgt. Mit dem Einverständnis des Ehemannes und der Kinder von Luisa Famos hat sie den Nachlass der Dichterin gesichtet und ihn in einer Dissertation (1998) aufgearbeitet. Auf dieser Vorarbeit basiert der Gedichtband. Es darf hier nicht unerwähnt bleiben, dass es sich bei den Gedichten um Texte handelt, die Luisa Famos in dieser Form in der Regel wohl nicht für vollendet und druckreif betrachtet hätte. Manches ist offensichtlich unfertig, wurde nur skizziert; bisweilen gibt es mehrere Varianten zu einem Gedicht. Man darf vermuten, dass Luisa Famos an vielem noch gefeilt, einiges schließlich auch ganz verworfen hätte. Trotzdem vermitteln die Gedichte noch einmal einen repräsentativen Einblick in das Schaffen der Dichterin, in ihr Denken, in ihre Themen. Breiteren Raum als in den früher veröffentlichten Bänden nimmt aber in diesen Gedichten die Nacht ein: "La not // Plan tieu sün peis scuzs / Est tü gnüda. / Ta naira culur / M'ha tuorblà / La vezzüda. // In traschendas e vias / Raivan sumbrivas. // O misteriusa bellezza / Tü'ns ninast in sön / Da quaidezza. / Imparzial ais teis suost, / Tuot ha'l abratschà. / Quai ch'ins renda varsià / Quai ch'ins renda beà." ("Die Nacht // Sacht und barfüssig / Bist du gekommen. / Deine Schwärze / Hat mir / den Blick getrübt. // In Gässchen und Strassen / Klettern Schatten. // Du rätselhafte Schöne / Wiegst uns in erquickenden / Schlaf. / Gross ist dein Hort / Umfasst alles. / Was uns bedrückt / Was uns beglückt.").

Der Band ist äußerlich sehr gediegen gestaltet. Er wird von einem Vorwort des Literaturwissenschafters und Publizisten Iso Camartin und einem Nachwort der Herausgeberin begleitet. Der Band enthält darüber hinaus einige aufschlussreiche Schwarzweißphotos der Dichterin und ihres Heimatdorfes Ramosch sowie einen wissenschaftlichen Anmerkungsteil. Leider wird man den Verdacht nicht ganz los, dass der Band hier gestreckt wurde, damit er überhaupt einen gewissen minimalen Umfang erreicht. Das Zielpublikum des Bandes wird überdies nicht ganz ersichtlich: Die Mischform aus elegantem Lyrikband und wissenschaftlich-analytischem Kommentar wirkt doch etwas verwirrend. Ein weiterer Wermutstropfen ist die Handvoll Druckfehler im deutschen Text: Sie sind bei diesen stillen Gedichten besonders störend.

So glücklich man sich schätzen darf, mit den Gedichten aus dem Nachlass noch einmal von Luisa Famos zu lesen: Wer das Werk der Dichterin wirklich kennen lernen möchte, sollte sich zunächst an den erwähnten Band "Poesias" halten. Hier wird er die "eigentliche" Luisa Famos vorfinden, mit vollendeten Gedichten, die man allein schon aufgrund ihrer betörenden Sprache nicht oft genug zitieren kann. So lautete das Eröffnungsgedicht aus "Inscunters": "Lügl a Ramosch // Trais randulinas / Battan lur alas / Vi dal tschêl d'instà // Minchatant tremblan / Trais sumbrivas / Sülla fatschad'alba / Da ma chà." ("Juli in Ramosch // Drei Schwalben / schlagen ihre Flügel / gegen den Sommerhimmel // Drei Schatten / zittern manchmal / über die weiße Wand / meines Hauses."). Am Ende ihres Lebens ist Luisa Famos in ihren Geburtsort Ramosch zurückgekehrt.

Kein Bild

Luisa Famos: Ich bin die Schwalbe von einst - eu sun la randolina d'ünsacura. Gedichte aus dem Nachlass. Rätoromanisch und Deutsch. Mit einem Vorwort von Iso Carmatin.
Herausgegeben von Mevina Puorger.
Übersetzt aus dem Rätoromanischen von Mevina Puorger und Franz Cavigelli.
Limmat Verlag, Zürich 2004.
125 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3857914629

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch