"Labyrinthe auf den Löschblättern meiner Hefte"

Christian Brückner liest Walter Benjamins "Berliner Kindheit um neunzehnhundert"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockner Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln. Diese Kunst habe ich spät erlernt; sie hat den Traum erfüllt, von dem die ersten Spuren Labyrinthe auf den Löschblättern meiner Hefte waren. Nein, nicht die ersten, denn vor ihnen war das eine, welches sie überdauert hat. Der Weg in dieses Labyrinth, dem seine Ariadne nicht gefehlt hat, führte über die Bendlerbrücke, deren linde Wölbung die erste Hügelflanke für mich wurde".

Mit dieser Wegbeschreibung, die zugleich eine Leseanweisung enthält, beginnen Walter Benjamins autobiografische Prosa-Texturen unter dem Titel "Berliner Kindheit um neunzehnhundert". Um sich in diesem Textsteinbruch zurecht zu finden, müssen in der Tat die Vergabelungen und Wegkreuze, die Geheimgänge und die Text-Eingänge seiner metaphorischen Topografie so gehandhabt werden, als ob sie sich auf einen leiblich empfundenen Raum hin orientieren ließen. Dies erfordert beim Lesen eine bestimmte Mobilität der Vorstellungskraft, eine Fähigkeit, beim Lesen die übereinander gelagerten Bilder zu entdecken, im Gedächtnis zu behalten und miteinander zu verknüpfen. Eine ungeheure Langsamkeit der Lektüre scheint geboten, um die Überdeterminiertheit der Vernetzung der Bilder und Texte nicht aus dem Auge zu verlieren. Das Bild des Labyrinths bestimmt nicht nur den Anfang, sondern auch den Fortgang des Textes; Benjamin evoziert es auf verschiedenen Ebenen: Neben dem Irrgarten, dem Labyrinth auf dem Löschpapier des Schülers und Ariadnes mythischem Labyrinth, entsteht im Verlauf des Textes ein weiteres Labyrinth - ein hermeneutisches, das sich über die ringförmig ineinander greifenden Enden von Textanfang und Textende spannt.

Ist die Allegorie im Trauerspielbuch Ausdruck der Gebrochenheit von Erfahrung, die sich im Auseinanderfallen zwischen Bild und Bedeutung zeigt, so kann sie als autobiografisches Verfahren nur Textruinen bereitstellen, denen der Verweis auf die Totalität des Lebens immer schon abhanden gekommen ist. Wesentlich dabei ist, dass die "Berliner Kindheit" durch andere Texte durchdrungen und durchbrochen ist, die ihrerseits die Geschlossenheit des Werkes sprengen und neue Räume des Schreibens eröffnen. Benjamins Text etabliert sich als Feld von Lektüren, in dem immer wieder verhüllt Bezug auf die Tradition genommen wird. So entsteht eine Textur, in der Benjamins "Berliner Kindheit" einen Knotenpunkt für die Möglichkeiten einer surrealistischen Stadtwahrnehmung darstellt. Ist die Stadt ein Labyrinth, so wird der Aufenthalt in der Vergangenheit zu einem Aufenthalt im Labyrinth, in dessen Mitte kein erkenntnistheoretischer Minotaurus mehr sitzt, sondern in dessen verzweigte Gänge Erinnerungen unkontrolliert einströmen.

Das mag auch der Grund sein, warum eine Publikation dieser Prosa-Miniaturen, an denen Benjamin zwischen 1932 und 1938, nach mittlerweile fünf Jahren im Exil, gearbeitet hat, als Buch zu seinen Lebzeiten nicht zu erreichen war. Ähnlich wie viele andere Texte Benjamins blieben seine Kindheitserinnerungen nicht nur ein opus infinitum, sondern mehr noch ein opus inconclusum. Erst 1950 erschien die "Berliner Kindheit" als erste postume Buchpublikation Benjamins, besorgt von Theodor W. Adorno, herausgegeben von Peter Suhrkamp, nach dessen Aussage sie alsbald zu den am schlechtesten verkauften Büchern des Verlags avancierte. Über dreißig Jahre später entdeckte man in der Pariser Nationalbibliothek unter einer Anzahl von Papieren, die Benjamin dort 1940, vor seiner Flucht aus der Stadt, von Georges Bataille hatte verstecken lassen und die seither als verschollen galten, die 1938 entstandene Fassung letzter Hand der "Berliner Kindheit", in der sich auch eine vom Autor selbst herrührende Disposition des Textes fand. Eine weitere Version wurde erst 1988 zugänglich, die fünfzig Jahre nach der Erstausgabe - benannt nach ihrem damaligen Aufbewahrungsort - als "Gießener Fassung" publiziert wurde. Um die Jahreswende 1932/33 entstanden, repräsentiert die Gießener Fassung das Frühstadium der Arbeit Benjamins an der "Berliner Kindheit", deren "von innen heraus leuchtende Prosa" Rolf Tiedemann mit einigem Recht den Texten Kafkas an die Seite stellte.

Weiterführende Erkenntnisse bietet die synchrone Lektüre der "Berliner Kindheit" mit Benjamins medienästhetischen Texten dieser Zeit (vor allem mit denjenigen zur Fotografie und zum Film), die die Auswirkungen der massenhaften Reproduzierbarkeit von einstmals auratischen Kunstwerken auf den Begriff und die Rezeption von Kunst und die dadurch ausgelösten Veränderungen in der Struktur der Wahrnehmung theoretisch reflektiert haben. Auch die Wahrnehmung des eigenen Lebens wird intermedial, d. h. sie sieht sich der Konkurrenz der technischen Medien ausgesetzt. Das Schreiben wird aber dadurch nicht etwa zur Kinemato-Grafie oder Foto-Grafie, sondern gilt als Möglichkeit, die Schrift aus der aisthesis der technischen Apparate heraus zu bereichern. Dass dies auch für die akustischen Medien gilt, ist für den 'Ohrenzeugen' Walter Benjamin vorauszusetzen. Daher darf man sich nun an einer ungekürzten Lesung der Gießener Fassung der "Berliner Kindheit" durch den Grimme-Preisträger Christian Brückner erfreuen, dessen Stimme mit Bedeutungsschwere und der dafür erforderlichen Langsamkeit den Berliner Flanerien Benjamins nachspürt und den Hörer auf die Reise in die Unterschichten des Textlabyrinths mitnimmt. Intermedialität bedeutete für Benjamin bekanntermaßen, dass das Verhältnis von Wort und Bild eine Dynamisierung erfährt, die zu einem Schriftmodell führt, das die Krise der Repräsentation aufgreift und darauf mit der Erweiterung ihrer Möglichkeiten reagiert. Brückners großartige Lesung lässt zumindest an die Möglichkeit denken, unter dem Stichwort 'Intermedialität' zukünftig mehr über das vernachlässigte Verhältnis von Wort und Stimme nachzudenken.

Titelbild

Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. 2 CDs. Gelesen von Christian Brückner. Gießener Fassung, ungekürzt.
Parlando Verlag, Berlin 2005.
150 Minuten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3935125410

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