Für den Menschen

Die erste deutschsprachige Einführung in das Gesamtwerk Giorgio Agambens von Eva Geulen hält mehr als sie verspricht

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenigen Philosophen wird die Ehre zu Teil, die umfassende Würdigung ihres Gesamtwerks miterleben zu dürfen. Der Verlag Junius hat jetzt in seiner erfolgreichen "Reihe zur Einführung" eine Darstellung des Denkens und Schreibens von Giorgio Agamben herausgegeben, auf den sich nun nach dem Tod fast aller französischer Vordenker des Poststrukturalismus die erwartungsvollen Blicke vor allem kritisch bewegter Studierender richten. Die personelle Veränderung im wissenschaftlichen Beirat der Einführungsreihe führte zu einer gewollten Verschiebung der Portrait- und Themenbände von der Philosophie zur Kulturwissenschaft. Waren vor einigen Jahren noch Apel, Derrida, Habermas und Gadamer Ikonen der Geisteswissenschaften, denen man zu Lebzeiten ein Denkmal setzte, so verlagert sich der Schwerpunkt: Agamben, der zwar als Italiener natürlich "philosophiert", aber eben transdisziplinär arbeitet, wird von der Bonner Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen vorgestellt, die dezidiert den Zugang über die historische Rechtswissenschaft und Philologie sucht.

Um es gleich vorweg zu sagen: Das Buch eignet sich nur bedingt als Einführung, dennoch dürfte es einer der besten Bände der Reihe sein. Kein Wort ist hier zuviel, jeder Satz muss mit hoher Konzentration gelesen werden. Der Text ist sehr dicht, aber dennoch sehr gut verständlich. Der Autorin gelang es, auch verquaste Gedanken transparent zu machen und vor allem: Nie mehr als einen davon gleichzeitig zu diskutieren. Die Kritik an Agamben wird nur dann vorgebracht, wenn seine Position zuvor so stark als möglich gemacht wurde. Im Gegenzug werden auch die Kritiker Agambens durchleuchtet. Geulens Buch ist exemplarisch für die neue Kultur des wissenschaftlichen Schreibens, aber es setzt eben Kenntnisse der Gedankenwelt Agambens voraus. Nicht dass diese nicht ebenso transparent gemacht würde wie die einzelnen Argumente, aber Geulen stellt vor dem Hintergrund einer langjährigen Beschäftigung mit Agamben in ihren Oberseminaren eine Konsistenz der heterogenen Topoi her, die Agamben selbst nicht zur Sprache bringt. Der Text von Geulen ist damit mehr als die Summe der einzelnen Texte Agambens und würde einem unbedarften Leser zuviel vorgeben.

Die wesentliche Leistung Geulens besteht darin, die Epistemik und die Ethik des Denkers zusammenzubringen, also die von Agamben als Grundrichtung des "homo sacer"-Projektes vorgegebene Synthese von Michel Foucault und Hannah Arendt, deren Ansätze damit eine neue Ausrichtung erfahren. Foucaults Bestimmung des modernen politischen Paradigmas der "Biomacht" wird dabei von Agamben ebenso mit Material unterfüttert, wie er Arendts Suche nach einer Anleitung zum antitotalitären Menschsein zu einem möglichen Ende denkt. Die historische Kernaussage Agambens ist die Behauptung, dass das "nackte Leben" als politische Kategorie das Ergebnis einer topologischen Praxis der neuzeitlichen Staatsauffassung sei. Im gleichen Zuge, in dem der äußere Naturzustand als überwunden postuliert wird, erfolgt seine Etablierung als Ausnahmezustand im Inneren. Die Demokratie wird damit zur Bedingung der Möglichkeit des Totalitarismus und das Lager zur Manifestation dieses Zusammenhangs. Wie Geulen zeigt, übersteigt Agamben dabei die strukturalistische Trennung von synchroner und diachroner Beschreibung, indem er den Begriff des vogelfreien Homo sacer (der heilige/verdammte Mensch, der von jedem getötet werden darf, aber nicht zum Opfer taugt) als eine spätantike Figur präsentiert, die sich jedoch erst sukzessive und bis in die Moderne hinein realisiert. Agambens 'ethische' Antwort auf die fatale Situationsanalyse ist eine scharfe Kritik der zunehmenden Verrechtlichung des Lebens, als deren Ergebnis die Trennung von lebenswerten Leben und lebensunwertem Leben selbstverständlich zu werden drohe. Der Mensch in seiner politischen Existenzweise als Gemeinschaftswesen ist für Agamben irreduzibel. Damit nimmt er sich letztlich als Humanist aus, der an die Kraft eines universalen Intellekts glaubt, dessen Realisationen wird sind und zu dessen Stärkung es einer Anerkennung des Religiösen im Politischen bedürfe: Vernunftglaube nannten dies die deutschen Idealisten.

Geulen bleibt in Ihrer Darstellung kaum eine Antwort schuldig, auch wenn sie selektiv vorgeht. Sie kann die vielen Walter-Benjamin-Anleihen Agambens ebenso ausmachen, wie sie immer noch einen Schritt vor jeder Referenz zurückgeht und auch deren Kontext darlegt. Auch hat sie klar den innersten Kern aller Agamben'schen Denkfiguren erfasst, die Ontologie des Aristoteles, aus dessen Konzept der "Verwirklichung" (Übergang vom Möglichen zum Wirklichen) die Idee des 'Unvermögens' generiert, den strukturellen Status des Homo sacer, gegenüber dem der Souverän als reine Potenz erscheint. Nur den eigentlichen Katalysator lässt Geulen dabei unter den Tisch fallen: Es ist weder Martin Heidegger, noch Foucault, noch Benjamin: es ist Gilles Deleuze. Er war es nämlich, der mit dem Konzept des Virtuellen als reale Möglichkeit und der Aktualität als dessen Gegenüber den Gedanken vorbrachte, den beide bei Melville durch die Figur des Bartleby dramatisiert sehen: das Sein-lassen-können einer Verwirklichung. Doch nicht nur diese Wiederaufnahme der thomistischen Fortführung von Aristoteles, auch die Begriffe des (Minoritär)'Werdens' und der 'Zeugenschaft' (Deleuze wie Agamben rezipieren hier Primo Levi) gaben dem Denken Agambens eine tiefe Prägung. Einen wichtigen Hinweis darauf gibt Agambens "Interpunktions"-Lektüre von Deleuzes Abschiedstext: "Die Immanenz - ein Leben..." in dem Artikel "Die absolute Immanenz" von 1996. Hierin sagt Agamben ausdrücklich, was Geulens Darstellung bestätigt und weshalb die gegenwärtige Kritik im Feuilleton zu Recht den apokalyptischen Ton des neuen Meisterdenkers schilt. "Das glückselige Leben wird auf jenem Terrain liegen, auf dem sich der biopolitische Körper des Abendlandes bewegt."

Titelbild

Eva Geulen: Giorgio Agamben. Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2005.
167 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 3885066041

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