Innere Außenperspektive

Oliver Lubrich hat Texte ausländischer Autoren gesammelt, die das "Dritte Reich" besuchten

Von Maik SöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maik Söhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angesichts der Fülle an Büchern über den Nationalsozialismus ist es seltsam, dass es ein Werk wie das jüngst erschienene "Reisen ins Reich 1933-1945. Ausländische Autoren berichten aus Deutschland" bisher noch nicht gab. Warum aber ist 60 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus noch niemand auf die Idee gekommen, so etwas zu veröffentlichen?

"Die Vorstellung, eine Reise in das Dritte Reich zu unternehmen, mag heute einigermaßen abwegig erscheinen. Und vielleicht wurde aus diesem Grund die Reiseliteratur über Nazideutschland als Thema übersehen." So lautet die Antwort des Herausgebers Oliver Lubrich, der an der Freien Universität Literaturwissenschaften lehrt. Kenntnisreich führt er in seinem Vorwort die diversen Autoren - meist Schriftsteller und Kulturjournalisten - ein, erläutert ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus und ordnet es den zeitgeschichtlichen Ereignissen zu. Wer war ein Sympathisant Hitlers, wen trieb nur die Neugier, wer war ein Gegner? Wie funktionierte die Zensur vor dem Zweiten Weltkrieg, wie danach? Seine wichtigste Frage aber ist: Zu welchen Erkenntnissen konnte man damals überhaupt kommen, wenn man die Augen und Ohren offen hielt?

Nur wenige begriffen schon früh, zu was der Nationalsozialismus fähig sein würde. Der schwedische Dichter Gunnar Ekelöf schrieb Ende des Jahres 1933 über den "Zivilisationsbruch" der Nazis, und die anfangs mit ihnen sympathisierende amerikanische Diplomatentochter Martha Dodd befürchtete 1938, die Verfolgung der Juden werde in einer planmäßigen Vernichtung enden. Die Existenzialisten Jean-Paul Sartre und Albert Camus hingegen waren bei ihren kurzen Aufenthalten so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass ihnen zu Deutschland kaum etwas einfiel. Max Frisch arbeitete sich an der Betrachtung der deutschen Architektur ab, während sich Virginia Woolf über ihre eigene Unterwürfigkeit ärgerte.

Aussagekräftig ist auch die kurze Berlin-Visite des Dichters Jean Genet. Vor seiner Deutschlandreise kokettierte er noch mit dem Nationalsozialismus, weil er darin einen Gegenentwurf zur westlichen bürgerlichen Gesellschaft sah. Doch im Herbst 1937 wendet er sich nach wenigen Wochen in Berlin entsetzt von Deutschland ab. Genet, der Freund des Diebstahls, hat "selbst Unter den Linden das Gefühl, durch ein von Banditen angelegtes Lager zu spazieren". Er kommt zu dem Schluss: "Wenn ich hier stehle, tue ich nichts Besonderes, wodurch ich mich auszeichnen könnte" - und reist enttäuscht zurück nach Frankreich.

1941 notiert der amerikanische Radiokorrespondent Harry Flannery, dass er in Frankfurt am Main Zeuge gewesen sei, als "Juden in Konzentrationslager deportiert" wurden. Er ist zu diesem Zeitpunkt erst wenige Monate in Deutschland und beherrscht die Landessprache nicht gut. Umso erstaunlicher ist es, dass er etwas mitbekommt, was so viele Deutsche nach 1945 nicht gewusst haben wollen.

In Berlin, wo er sich die überwiegende Zeit aufhält, beobachtet Flannery verblüfft, dass bei großen Teilen der Bevölkerung 1940/41 keine rechte Kriegsbegeisterung aufkommen will. Und das, obwohl eine Niederlage der Wehrmacht zu dieser Zeit nicht zu befürchten war. Die mangelnde Kriegsbegeisterung war zuvor schon Howard Smith aufgefallen, einem weiteren in Berlin lebenden US-Journalisten. Warum aber waren die Deutschen im Krieg dennoch so fanatische Gefolgsleute, fragt er sich und antwortet, dass sie wohl wussten, welche Verbrechen Deutschland gerade beging und die Strafe dafür fürchteten.

"Reisen ins Reich" ist voll von solchen kleinen und großen, immer aber erhellenden und faszinierenden Beobachtungen und Analysen ausländischer Zeitzeugen. Schade nur, dass man so lange auf dieses Buch warten musste.

Titelbild

Oliver Lubrich: Reisen ins Reich 1933-1945. Ausländische Autoren berichten aus Deutschland.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
427 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3821847425

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