Die unzähligen Wege der Exegese

Roberto Calasso liest deutschsprachige Klassiker der literarischen Moderne

Von Maximilian ProbstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Probst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen sagte vor knapp 45 Jahren, die Ideengeschichte sei abgeschlossen und wir im Zeitalter der Nachgeschichte, der Posthistoire angekommen: "Rechne mit deinen Beständen", Gottfried Benns berühmter Rat, sei nun der Menschheit als Ganzer zu erteilen. Mit wenigen Worten hatte Gehlen damit ein Forschungsprojekt skizziert, das sich als ebenso ergiebig wie grenzenlos erwies.

Ein Meister dieser Art Bestandsaufnahme ist Roberto Calasso: Vor zwei Jahren begeisterte sich die Kritik an seinem Essay "Die Literatur und die Götter", einer Engführung indischer und griechischer Mythologie mit der absoluten, kunstmetaphysischen Literatur der Moderne. Jetzt hat der Hanser Verlag "Die neunundvierzig Stufen" folgen lassen: frühere Essays, in denen sich Calasso mit einer Reihe deutschsprachiger Autoren auseinander setzt. Am eindringlichsten befasst er sich mit Nietzsche, Karl Kraus, Robert Walser, Frank Wedekind, Max Stirner, Daniel Paul Schreber und Gottfried Benn; es handelt sich dabei um Vor- oder Nachwörter, die Calasso, Chef des renommierten Verlags Adelphi in Mailand, anlässlich der italienischen Publikation von Werken dieser Autoren verfasst hat.

Erwartet man jetzt flotte Einführungen in die Werke dieser hierzulande doch bekannten Schriftsteller, geht man allerdings fehl: Calasso bewegt sich durchwegs auf einem hohen Reflexionsniveau, jongliert mit Ideen, Querverbindungen, Biografischem, bedient sich aus dem Bildungsschatz nicht nur der griechischen Mythologie und Philosophie, sondern auch der antiken Rhetorik - wobei der Leser zuweilen aus dem Blick gerät. Man kann Calasso diese Rücksichtslosigkeit allerdings kaum anlasten. Wird man doch von ihm belehrt, dass der Künstler laut Nietzsche daran zu erkennen sei, "ob er vom Auge des Zeugen aus nach seinem werdenden Kunstwerke (nach 'sich'- ) hinblickt, oder aber 'die Welt vergessen hat'." Das Absehen von der Welt macht die Texte reizvoll; das Nachsehen (auch ein Fremdwörterbuch sollte griffbereit sein) hat der Leser. Schon hier wird Calassos Strategie ersichtlich: Er bewegt sich zwischen Literaturwissenschaft und Literatur, zwischen Dialog und Monolog, zwischen Zeigen und Verschweigen - und das mit großer Gelehrtheit, Ideenreichtum und einer geradezu altmeisterlichen Beherrschung der Sprachmittel.

Man hat Calasso vorgeworfen, dass er große Literatur nacherzähle; was aber nicht der Fall ist: Calasso inszeniert, arrangiert, dramatisiert - und schreibt mit dieser Operation die Literatur neu. Mit seinem Nietzsche-Essay bringt er gleich zu Anfang, ein fulminanter Auftakt, die größte Tragödie der Geistesgeschichte auf die Bühne. Im Mittelpunkt steht dessen letzte Schrift, "Ecce Homo", die den ominösen Untertitel trägt: "Wie man wird, was man ist" - wahnsinnig in Nietzsches Fall, wie man ja weiß. Betrachtet man aber Nietzsches Wort aus dem Blickwinkel dieses Wissens, muss auch die letzte Schlussfolgerung gezogen werden: dass "der in Turin ausbrechende Wahnsinn vor allem die Äußerung einer Praxis ist, die vom ganzen (vorherigen) Denken Nietzsches konstruiert worden ist". Calasso nimmt Nietzsche beim Wort. Er billigt Nietzsche aber auch zu, dass dieser sich selbst buchstäblich genommen habe - und das ist nach Calasso eines der Merkmale des Genies.

Der Nietzsche-Essay ist in dieser Schlussfolgerung programmatisch: Calassos Beschäftigung mit der Literatur zielt auf den Nachweis, dass Schreiben mehr ist als ein bloßes Spiegelgefecht; dass es ums Ganze geht, um den Versuch der Überschreitung des Ichs. Keiner hat diesen Sachverhalt besser beleuchtet als Jacques Derrida: "Der Mensch kann sich Mensch nur nennen, indem er Grenzen zieht, die sein Anderes: die Reinheit der Natur, der Animalität, der Ursprünglichkeit, der Kindheit, des Wahnsinns, der Göttlichkeit... ausschließen. Die Annäherung an diese Grenzen wird als eine tödliche Bedrohung gefürchtet und zugleich als Zugang zum Leben ohne Aufschub begehrt." Calasso hätte dieses Zitat seinen Essays als Motto voranstellen können: mit Nietzsche, Schreber und Walser kommt der Wahnsinn zu Wort, bei Walter Benjamin vernimmt Calasso die Stimme des Kindes, die Animalität bricht sich im Anarchismus Stirners die Bahn, die Reinheit der Natur ist das Thema Wedekinds und Marx', und Kraus kommt vom Ursprung nicht los. Der Vorhang senkt sich schließlich vor den Göttern: Der letzte Essay ist dem Mythos gewidmet.

Calasso zeichnet damit ein Bild der Moderne, das selbst für uns noch verbindlich sein soll: wir leben im Zeitalter des Experiments, auf dem Spiel steht die Individualität; Kraus diskreditiert sie als "Wahn", Benn als "eine späte Stimmung der Natur und sogar eine flüchtige", Walser sagte schlicht und ergreifend, er sei "eine Null". Diesen Zug der Moderne zeichnet Calasso deutlich nach. Weniger klar ist dann allerdings dessen Beurteilung: Besteht ein Zusammenhang zwischen dem literarischen Programm der Individualitätsvernichtung und der "totalen Mobilmachung", wie Calasso manchmal nahe zu legen scheint? Sind die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts die Kehrseite der künstlerischen Avantgarde der Moderne? Oder konstatieren und zertrümmern die hier genannten Autoren lediglich eine falsche Individualität, die den Totalitarismen als Grundlage dient und der etwas Eigenes, und sei es die reine Verneinung, entgegenzusetzen ist?

Ein Versuch, die verstreuten Bemerkungen dieses latenten kulturkritischen Diskurses zusammenzutragen, müsste sich vor allem auf Calassos Lektüre von Karl Kraus richten; er macht in dessen Werk zwei Grundstränge aus: den Zerfall der Erfahrung einerseits und die Verfügbarkeit des 'Menschenmaterials' andererseits. Das seien die Zeichen der neuen Zeit. Der Erfahrungsverlust wird durch das Heraufziehen der Meinung ersetzt. Die Meinung ist aber, so Benjamin in seinem Kraus-Portrait, falsche Subjektivität; eine Subjektivität, die sich von der Person abheben, der Warenzirkulation einverleiben lässt. Der Motor dieser Bewegung ist die Presse: "Sie erhebt nicht nur den Anspruch, dass die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt auch die heimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, dass Taten zuerst berichtet werden, ehe sie verrichtet werden." Hier hat Kraus die Medienkritik eines Günther Anders oder Jean Baudrillards um einige Jahrzehnte vorweggenommen.

Mit der Ersetzung der Erfahrung durch die falsche Subjektivität der Meinung geht der Schrecken einher: "Es bilden sich Gruppen", schreibt Kraus, und Calasso vernimmt hinter diesen Worten den "Glockenschlag des Grauens": "Die Gruppen bilden sich immer um einen Leichnam herum. Wenn der Leichnam fehlt, lässt die leere Stelle an viele Leichen denken, die dort schon gelegen haben, viele, die dort erscheinen werden." Die Totalitarismen geben sich damit als Ausgeburten der Presse zu erkennen.

Die heutige, vom Trend der Meinungsmache gezeichnete Gesellschaft hat darum Calasso zufolge mitnichten die Gefahren der Barbarei ausgeräumt: die alten Mechanismen wirken ungebrochen fort; nicht nur die Zukunft bleibt offen. Mit einer auf Giorgio Agambens "Homo sacer Projekt" vorausweisenden Geste unterstellt Calasso im Anschluss an Kraus, dass der Schrecken niemals wirklich geendet habe, denn die jetzige Zeit neige dazu, "die Ruhe und das Gemetzel in Gemeinschaft existieren zu lassen, so dass sie zeitlich nicht mehr getrennt sind, sondern nur noch im Raum" - wobei sich die räumliche Entfernung ebenso nach Kontinenten wie nach Stadtvierteln bemessen könne.

Man kann Calasso zugute halten, dass die kulturkritische Konstante seiner Essays aus dem Drang resultiert, die Literatur ernst zu nehmen. Dass er in deren Gewand aber mehr raunt als redet, ist bedauerlich. Denn hätte er sich einer diskursiven Ausdrucksweise bedient statt Schlussfolgerungen aus unterschlagenen Prämissen zu ziehen - seine Kulturkritik wäre vielleicht so überzeugend wie alarmierend geworden. Hier blitzt der Abgrund auf, an dessen Rande sich der postmoderne, grenzgängerische Diskurs schon immer bewegt: Was unter literarischen Gesichtspunkten gelingt, gerät unter moralischen bisweilen zur Farce.

Es hätte aber schlimmer kommen können. Man kann von Glück reden, dass sich Calasso nicht unter die Genies eingereiht hat, die sich buchstäblich nehmen. Sonst hätte der Leser gemäß der talmudischen Lehre, der das Buch seinen Titel verdankt, gleich neunundvierzig Sinnstufen zu erklimmen. Aber wer weiß - vielleicht steht der Rezensent ja auf den untersten, und den Leser erwartet eine böse Überraschung - eine tour de force.

Titelbild

Roberto Calasso: Die neunundvierzig Stufen.
Übersetzt aus dem Italienischen von Joachim Schulte.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
383 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-10: 3446205675

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch