In der Gender-Falle?

Der erste Band des neuen Jahrbuchs für Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Obwohl der Status von Professorinnen im "System der Universität" nach wie vor "prekär" sei, habe "[w]eibliche Intellektualität" inzwischen wenigstens "den 'Geruch des Abnormen' verloren", konstatierte die Erziehungswissenschaftlerin Susanne Maurer unlängst. Dem würden wir gerne zustimmen, hätten wir uns nicht in einem misogynen Beitrag von Holger Bertrand Flöttmann in der FAZ vom 13. Juni 2005 eines Schlechteren belehren lassen müssen. Schwadroniert der Neurologe hier doch ganz nach Altherrenart der Antifeministen um 1900 darüber, dass "Frauen, die lernen, studieren und promovieren [...] ihren Verstandesapparat überentwickel[n]". Anders als derartige Suaden, die im Übrigen zu Recht eine Flut entrüsteter Leserinnenbriefe hervorriefen, sind die Beiträge des "Jahrbuchs Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft", dessen erster Band nun unter dem Titel "Geschlechterforschung in der Kritik" erschienen ist, nicht mit Ärger, sondern (meist) mit Gewinn zu lesen. Ihm ist auch das Zitat Maurers entnommen, die sich in ihrem Beitrag "für ein kritisch kultiviertes Bewusstsein von der (Gesellschafts-)Geschichte der Frauen und Geschlechterforschung" stark macht. Diese kritische Geschlechterforschung, schreibt Maurer weiter, müsse "in spezifischer Weise auf Feminismus als transformative[r] Politik bezogen" sein. Ihre Einforderung einer Geschlechterforschung mit feministischem Impetus fußt auf der These, dass die Gender-Theorie Gefahr laufe, ihr kritisches Potenzial zu verlieren, sollte die Erinnerung an die mit ihrer Entwicklung verknüpften Kämpfe um eine "Neugestaltung gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse" verloren gehen.

Ziel des neuen Periodikums ist es, die gegenwärtigen Ergebnisse erziehungswissenschaftlicher Frauen- und Geschlechterforschung in theoretischen Beiträgen und in Forschungsberichten "zu systematisieren und einem größeren Publikum bekannt zu machen". Darüber hinaus soll das als "diskursoffenes, disziplinär ausgerichtetes und transparentes Forum" konzipierte Jahrbuch den "erreichten wissenschaftlichen Standard" durch Beiträge junger WissenschaftlerInnen voranbringen und so insgesamt zu einer "Theorie-geleiteten Systematisierung der Geschichte der Geschlechterdifferenz" beitragen. Wie die Herausgeberinnen eigens betonen, versteht sich das Organ dabei auch als "Forum für die Auseinandersetzung mit der Männerforschung". Ein Anspruch der bereits im ersten Band durch einen - allerdings durchaus nicht unstrittigen - Beitrag aus der Feder Edgar Forsters eingelöst wird.

Anders als in den Gender Studies üblich, soll in den Jahrbüchern nicht die Interdisziplinarität der Geschlechterforschung hervorgehoben, sondern ganz im Gegenteil eine "disziplinäre Fokussierung der Diskussion" angestrebt werden; allerdings ohne die "interessanten Ergebnisse" der interdisziplinären Forschungspraxis zu ignorieren. Vielmehr geht es darum, "den erziehungswissenschaftlichen Gegenstands- und Problembezug in diesem Kontext stark machen". Für künftige Bände wird die Möglichkeit einer Kritik oder Antwort auf einen der Beiträge des vorangegangenen Jahrbuches in Aussicht gestellt.

Unter der Rubrik "Aus der Forschung" berichtet Sabina Larcher von professionellen Inszenierungen in der Wechselwirkung zwischen institutionellen Arrangements und sozialer Praxis. Marita Kampshoff vergleicht empirische Forschungen aus England und Deutschland zu geschlechterdifferenten Schulleistungen, und Inga Pinhard zeichnet die soziale Ethik Jane Addams nach.

Interessanter aber als die Forschungsberichte sind die theoretisch ausgerichteten Beiträge. Hier geht Eva Breitenbach der Frage nach, ob Geschlecht etwas sei, "das wir haben, tun oder sind" und schlägt vor, Geschlecht als einen "Erfahrungsraum" - oder als Teil eines solchen - zu fassen, "der die Grundlage einer spezifischen Orientierung und Praxis bildet". Geschlecht beziehungsweise Geschlechtszugehörigkeit sei demzufolge eine "Praxis, die empirisch (re)konstruierbar ist". Wichtigste Bezugs- und Gewährsfrau für Breitenbachs weitere Ausführungen ist die renommierte US-amerikanische Gender-Theoretikerin Judith Lorber, deren Ansatz "eine sozialkonstruktivistische Auffassung von gender mit einer Analyse der Geschlechterverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse verbindet". Breitenbachs Klage, (sexuelle) Gewalt im Geschlechterverhältnis sei zwar ein wichtiges Thema feministischer Forschung, nicht jedoch der "universitäre[n], akademische[n]" Forschung, ist zwar nicht unbegründet. Doch völlig absent ist das Thema auch in der deutschsprachigen akademischen Geschlechterforschung nicht. Neben den von der Autorin genannten Forschungsprojekten von Ursula Müller und Monika Schröttle sowie von Carol Hagemann-White und Barbara Kavemann lässt sich unter anderem auf die in jüngster Zeit erschienenen Titel "Gewalt und Geschlecht" (2003, vgl. literaturkritik.de 12/2003 ), "Sexismus, Übergriffe im Alltag" (2004, vgl. literaturkritik.de 03/2005) und Gesa Danes "Zeter und Mordio. Vergewaltigung in Literatur und Recht" (im Druck) verweisen.

Barbara Rendtorff, die sich vor einigen Jahren mit einer Untersuchung zu "Geschlecht und différance" (1998) hervortat (vgl. literaturkritik.de 04/1999) und bald darauf gemeinsam mit Barbara Köster den Geschlechtskörper verteidigte (vgl. literaturkritik.de 06/2001), befürchtet heute, dass sich die "breite Übernahme" des Begriffs Gender für die Erziehungswissenschaften als "Falle" erwiesen habe. Denn er neige von Hause aus zu "Verkürzungen", die es dem "akademisch-universitären Diskurs" gestatte, ihn noch weiter "zu verdünnen". So habe die "Konzentration auf gender-Aspekte" denn auch nur "scheinbare Klarheit" geschaffen. Daher gelte es gegen die "Genderisierung der Debatte" ein wenig von der alten feministischen Perspektive "zurück[zu]erobern". Was genau sie damit meint und anstrebt, wird allerdings nicht recht deutlich. Eine Reanimierung der 1970er-Jahre-Variante des Feminismus wird damit doch hoffentlich nicht gemeint sein.

Zum Abschluss ihres Beitrags beklagt Rendtorff den "Mangel an produktiver theoretischer Rivalität" innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung. Denn nur "aus der Differenz, aus dem Zusammenprall mit dem Anderen" könne etwas Neues entstehen. Möge ihr durchaus nicht immer konsensfähiger Aufsatz also einen Beitrag zu einem ebenso kontroversen wie instruktiven und innovativen Geschlechterdiskurs leisten!

Edgar Forster, einer der beiden in dem Band vertretenen männlichen Autoren, wendet sich dem Verhältnis von Männerforschung, Gender Studies und Patriarchatskritik zu, wobei er seine oft klugen Thesen im Anschluss und in kritischer Auseinandersetzung mit Judith Butler entwickelt. Nicht nachvollziehbar werden seine Argumente allerdings dort, wo sie die Begründung für eine von feministischer Forschung unter- und geschiedenen Männlichkeitsforschung und -kritik liefern sollen. Die Zweifel beginnen schon, wenn er konstatiert, die Gender Studies hätten "an vielen Universitäten umstandslos feministische Theorien und Praxis abgelöst und damit Unterschiede zwischen feministischen Theorien, Männerforschungen, Queer Studies eher nivelliert und zugedeckt statt zum Gegenstand kritischer Analysen gemacht". Aufgrund dieses fragwürdigen Befunds favorisiert er eine Trennung in feministische Theorie und Männerforschung.

Männlichkeitskritik und Männerforschung sind ureigenste Gebiete feministischer Theorie und Forschung. Warum also sollten sie aus der feministischen Wissenschaft herausgebrochen werden? Wie sich schnell herausstellt, will das der Autor auch gar nicht. Ohne es wirklich explizit zu sagen, unterscheidet er Männlichkeitsforschung von dem besagten Teilgebiet feministischer Wissenschaft nicht durch das Forschungsobjekt sondern, durch das Geschlecht des Erkenntnissubjekts. Die von ihm angestrebte Geschlechter-Segregation der Forschenden begründet Forster nämlich zum zweiten damit, dass "(zumindest einige) Männer" den feministischen Diskurs "ab sofort mitbestimmen und mittragen, aber auch verändern und umdefinieren wollen". Weshalb er offenbar eine Art Schutzreservat für feministische Theorien für notwendig hält. Ihren schärfsten und zugleich konkretesten Ausdruck findet die von Forster angestrebte Geschlechtertrennung in der Forderung, "keine Lehrstühle für Gender Studies an Männer" zu vergeben, womit die Gender Studies endgültig in die Frauenecke gedrängt würden. Zu Ende gedacht kommen seine Vorschläge der Empfehlung einer Rezeptionssperre verdächtig nahe. Gegen diese müssten sich die Adressatinnen, wollten sie ihr denn folgen, allerdings auch sperren.

Betont Forster einerseits die Notwendigkeit autonomer feministischer Wissenschaft, so ist er andererseits mit Chantal Mouffe der Auffassung, die (bei Forster unter diesem Titel ausschließlich von Männern betriebene) Männlichkeitskritik benötige "keine Grenzen zum Feminismus, keine 'eigenen' Strategien, keine Selbständigkeit und Unabhängigkeit". Die männlichen Männlichkeitsforscher und -kritiker betreiben also die gleiche Theorie und Praxis wie ihre weiblichen Pendants, nur getrennt (dabei aber nicht unabhängig) von ihnen. Auch wenn männliche Wissenschaftler nichts im theoretischen Diskurs des Feminismus zu suchen haben, sollen sie doch "gemeinsam mit feministischen Theorien und Praxen eine umfassende Geschlechterdemokratie vorantreib[en]". Mit solchen - hier nur milde zugespitzt wiedergegebenen - Vorstellungen bildet Forster den direkten Konterpart zu den allerdings weit kritikwürdigeren Ausführungen des Männlichkeitsforschers Willi Walter. (vgl. literaturkritik.de 06/2005).

Auch wenn man nicht mit allen von den Autoren und Autorinnen des neuen Jahrbuches offerierten Thesen und Vorschlägen übereinstimmen mag, sei dem neuen Projekt doch viel Erfolg auf dem hoffentlich langen Daseins-Weg gewünscht.

Titelbild

Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft. Geschlechterforschung in der Kritik.
Herausgegeben von Rita Casale, Barbara Rendtorff, Sabine Andresen, Vera Moser und Annedore Prengel.
Verlag Barbara Budrich, Leverkusen 2005.
175 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3938094192

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