Seelentelegramme

Peter Wortsman übersetzt Peter Altenberg ins Amerikanische

Von Ester SalettaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ester Saletta

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sommer 1918. Der letzte Sommer Peter Altenbergs. Es steht schlecht um ihn. Es kommt öfter vor, dass er mit Krawatte schlafen geht. Auch lebt er wie ein Begrabener in seiner Dachkammer im Wiener Hotel Graben in der Dorotheergasse 3 (1. Bezirk). Es passiert, dass er mit seinen glatten Holzsandalen, die er jahraus jahrein trägt, beim Heimkommen auf der frisch eingeseiften Steinstiege vorm Hauseingang ausrutscht und sich seine Handwurzeln schwer verletzt. Auch dass er bei einem seiner nächtlichen Ausgänge von einem herrenlosen Hund gebissen wird.

Frühling 2005: Peter Wortsmans englische Übersetzung einer Auswahl von Prosaskizzen des Wiener Ur-Bohemiens Peter Altenberg (1859-1919) ist bei dem amerikanischen Verlag Archipelago Books erschienen. "Telegram of the Soul" heißt die neue literarische Anstrengung des jüdisch-amerikanisch assimilierten Peter Wortsman, der nicht nur seine eigene Herkunft - er stammt aus einer Wiener jüdischen Familie, die 1938 die Donaumetropole auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus verlassen hat -, sondern auch seine persönliche literarische Schreibart mit derjenigen der Wiener Kulturszene um die Jahrhundertwende teilt. Obwohl Peter Wortsman seine lückenhaften Kenntnisse in Bezug auf Peter Altenbergs literarische Produktion in einem Interview im österreichischen Ö 1-Radiosender gebeichtet hat, spiegelt "Telegram of the Soul" Wortsmans seelisch-literarische Verwandtschaft mit Altenbergs ziemlich "hermetischer" Schreibweise. Ein Beispiel dafür ist Wortsmans erster Erzählsammelband "A modern way to die" (1991), in dem sich der Autor "without map or compass, without destination, guided only by the precarious optimism of the pen" als Botschafter von Altenbergs Stil in einem manchmal witzigen, manchmal utopischen und surrealistischen, aber immer sehr spontanen und unmittelbaren Stil präsentiert. Die meisten Literaturwissenschaftler, die sich für Peter Altenbergs Welt und Kunst interessiert haben, haben diesen Wiener Autor in Bezug auf sein "Altersein", auf seine ästhetische Lebensunkonventionalität porträtiert oder - wie auch Wortsman selbst im Nachwort seiner Übersetzung betont - durch literarische Vergleiche vorgestellt. Das neue Buch Wortsmans folgt hingegen einer neuen Richtung. In der literarischen Konkretion von Wortsmans Prosaauswahl wird Peter Altenbergs Kunst und Persönlichkeit für sich selbst dargestellt. Durch Altenbergs Liebe für die stilistische Kürze und Unmittelbarkeit, die er im adäquat poetisch übersetzten Brief an Arthur Schnitzler vom Juli 1894 erwähnt - "I never know my subject beforehand, I never think it over. I just take paper and write. Even the title I toss off and hope that what comes out will have something to do with it. [...] I hate any revision. Toss it off and that's good! - ! Or bad! What's the difference?!" - findet man Altenbergs Kunstmanifest. Nur der Eindruck des ersten Gefühls oder der ersten Beobachtung kann für ihn genau und richtig bzw. objektiv und wahr sein. Nur eine instinktive und emotionale Skizze kann die ganze Substanz des Lebens und der Naturwelt mitteilen, wie Wortsman Altenbergs Skizze "In München" übersetzt: "I'm interested in the things that are, that will be! [...] But look, the new, the modern artist wants to reunite you with nature and its profound splendors! He wants to gently open your eyes to the gleam of life itself, not to the lure of false phantasy figures that have lost their effect!" In diesem Zitat findet man noch zwei Motive, die wichtig sind, um Altenbergs literarische moderne Botschaft zu verstehen bzw. die Augen als Beobachtungsmittel und die "Adalbert Stifter"-Leidenschaft für die kleinen Dinge der Natur. In einer Welt wie der unseren, in der man keine Zeit mehr zu haben scheint, die kleinen versteckten Schönheiten der Naturwelt zu schätzen, weil das Wort "Leben" immer mehr nur mit E-mail, Internet, Globalisierung, Fortschritt und Technologie assoziiert wird, ist Altenbergs Motto (auf englisch heißt es: "The significant things in life have absolutely no importance. [...] But the important differences are only manifest in the details! [...] One must be inclined to allow a symphony of ordinary life to resound in the sum of the ,little things'!") eine Einladung, sich wieder in die Natur zu versenken, um das Weltgeheimnis zu erfassen. Wenn die Literatur und insbesondere Adalbert Stifters "Bunte Steine" uns das empfohlen hatte, so hatte es auch die Architektur des berühmten Adolf Loos betont, und auch Altenberg selbst erinnert daran, wenn er indirekterweise über "Ornamentlosigkeit" spricht (in Wortsmans Übersetzung): "So paint your walls white, keep the decor as simple as possible, put things you can love, like brothers, sisters of the soul, not cold dohickeys, strangers! Then you'll be rich and never lonesome!" Der Reichtum, über den Altenberg spricht, ist ein seelischer und kein materieller, als welcher er in unserer modernen Gesellschaft meist verstanden wird. Mit diesem Buch schenkt Peter Wortsman der englischsprachigen Gesellschaft nicht nur die Gelegenheit, die Bekanntschaft mit einem großen Wiener Autor zu machen, sondern lädt alle Leser ein, unsere alltägliche chaotische Lebensart für einen Moment zu vergessen, um die Natur und ihre kleinen Geheimnisse wieder neu zu entdecken. Durch die Lektüre dieser Altenberg-Prosaauswahl erlebt man ein "carpe diem" der Wiener Literatur des Fin de Siècle und erfährt gleichzeitig, wie Altenbergs Streben nach einer Rückkehr zur Natur auch heute immer noch aktuell sein kann. Dank Wortsmans Übersetzung kann man das Seufzen der Naturwelt noch einmal atmen und die Schönheit der kleinen Dinge durch eine "sensoriale" und sehr unterhaltsame Lektüre zurückgewinnen. Wortsmans Übersetzung ist dabei kein Versuch, die damalige nostalgische Atmosphäre einer schon verfallenen habsburgischen Welt wiederaufzurufen, sondern der - gelungene - Versuch, die Aktualität von Altenbergs Kunst zu zeigen. Mit Wortsmans Übersetzung sind Altenbergs telegrafische Skizzen das konkrete Zeichen geworden, dass sein avantgardistisches Projekt, eine Prosa zu schreiben, die noch heute lebendig bleiben könnte, sich verwirklicht hat.

Titelbild

Peter Altenberg: Telegrams of the Soul. Selected Prose Pearls of Peter Altenberg.
Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort von Peter Wortsman.
Archipelago Books, New York 2005.
230 Seiten, 21,60 EUR.
ISBN-10: 0974968080

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