Der große antidialektische Aufklärer des 20. Jahrhunderts

Penka Angelova untersucht "Spuren zum mythischen Denken" bei Elias Canetti

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine der wesentlichen Schreibmotivationen Elias Canettis dürfte darin bestanden haben, auf einsamem Posten und aus verlorener Position heraus gegen alles, was Macht hat, anzuschreiben. Als "Hüter der Verwandlungen" sei es die Aufgabe des Dichters, führt Canetti in einem Notat seiner Sammlung "Das Gewissen der Worte" aus, "zu jedem zu werden", und so "die Zugänge zwischen den Menschen offenzuhalten". Nur durch Verwandlung im "extremen" Sinn sei "der wirkliche Bestand dessen, was an Lebendem da ist", zu erfassen. Der Hüter der Verwandlungen brauche "Platz für Wissen, das er zu keinen erkenntlichen Zwecken erwirbt, und Platz für Menschen, die er durch Verwandlungen erfährt und aufnimmt". Er "sammelt Menschen nicht, [...] er begegnet ihnen nur und nimmt sie lebend auf, - da er von ihnen heftige Stöße erfährt, ist es sehr wohl möglich, daß die plötzliche Hinwendung zu einem neuen Wissenszweig auch von solchen Begegnungen bestimmt ist". Er muss Platz haben für "Gegensätzliches und Unverbundenes", für "das Chaos der Welt", aber seine "Verantwortung" dafür bedeutet, dass er diesem Chaos "nicht verfallen" darf, sondern ihm, gerade weil er es erfahren hat, "widerstreiten und ihm das Ungestüm seiner Hoffnung entgegensetzen" muss.

Das Thema dieser Gedanken über seine dichterische Existenz bedeutet für Canetti Verantwortung durch Verwandlung - in "jedes Einzelne, das lebt und das ist": "Am Mythos, an den überlieferten Literaturen erlernt und übt er die Verwandlung. Er ist nichts, wenn er sie nicht unaufhörlich an seiner Umwelt anwendet. Das tausendfältige Leben, das in ihn eingeht, das in all seinen Erscheinungsformen sinnlich getrennt bleibt, schlägt in ihm in keinem Begriff zusammen, aber es gibt ihm die Kraft, sich dem Tod entgegenzustellen und wird darin zu etwas Allgemeinem". Die Literaturwissenschaftlerin Penka Angelova hat sich auf die "Spuren zum mythischen Denken" bei Elias Canetti begeben und gelangt in ihrer Lektüre des gewaltigen Textmassivs der "Aufzeichnungen" und des kulturanthropologischen Großessays "Masse und Macht" zu der Überzeugung, Canetti sei als Verächter von Systemzwängen des Denkens und als erbitterter Feind des Todes "der große antidialektische Aufklärer des zwanzigsten Jahrhunderts". Ihrer Meinung nach kennzeichnet das "Zusammenspiel von mythischem und historischem Denken mit erkenntnistheoretischen Ansätzen" Canettis theoretisches Werk.

Der erste Teil ihrer Untersuchung ist dem Motivgefüge der "Aufzeichnungen" gewidmet, wobei Canettis Todesfeindschaft, die Geschichtsauffassung und das Menschenbild besondere Aufmerksamkeit erfahren. Ausgesprochen anregend sind die Überlegungen Penka Angelovas zur Poetik der Charakterbilder in den "Aufzeichnungen", die nach der Art des "Ohrenzeugen", eines nach wie vor viel zu wenig beachteten Textes Canettis, auf jeweils eine übertriebene Eigenschaft ausgerichtet sind. In diesen Prosaminiaturen sieht die Verfasserin Canettis "im gemäßigten Sinne 'postmoderne' Auffassung vom Menschen" exemplifiziert. In der Tat kranken die meisten Überlegungen zu den Charakterbildern vor allem daran, dass die unterschiedlichen "Charaktere" nur selten vor dem Hintergrund von Canettis Begriff der Masse gedeutet werden. Bezieht man diese Überlegungen mit ein, kommt man mit Angelova folgerichtig zu dem Ergebnis, dass das "wahrhaft Neue [...] in Canettis Anthropologie [...] die Entdeckung der Masse im Menschen" sei. Somit lassen sich die Charakterbilder als die zu Figuren erstarrte Erscheinung der Masse im 20. Jahrhundert lesen. Alle diese Skizzen heben überpersönliche Charaktere der Gesellschaft hervor, die nun aber keineswegs metahistorisch angelegt sind, sondern durchweg die spezifische Prägung des 20. Jahrhunderts tragen.

Im Mittelpunkt der Überlegungen im zweiten Teil der Arbeit steht Canettis "Mythos von der Verwandlung", der sich vor allem in den Erzählverfahren von "Masse und Macht" niederschlägt und in zwei Variationen in den Blick genommen wird: als "mnemo- und erzähltechnische Spuren zum mythischen Denken" sowie im Motiv des Welttheaters "als erkenntnisermöglichendes Machttheater". Am Beispiel der "Sprachpoetik" der "Blendung", der ein Vergleich mit Kafka und Platons Höhlengleichnis zugrunde liegt, untersucht die Verfasserin abschließend den sprachschöpferischen Ansatz und die sprachtheoretischen Reflexionen Canettis, die "nicht als eine Einladung zum Wahn verstanden werden, sondern als eine 'Einladung zur Verwandlung' und zur Sprachreflexion über eine Sprache, deren Chiffren im menschlichen Körper und in der Natur zu suchen sind und in der der Mensch auch mit der Natur zu kommunizieren vermag, als eine Einladung zur Verantwortung gegenüber den angeblich stummen Dingen der Natur". Durch ihren interdisziplinären Ansatz, der der von Canetti immer wieder geforderten, engen Verflechtung von geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskursen verpflichtet ist, gelingt es Penka Angelova eindrucksvoll zu verdeutlichen, dass Canetti "mit seinem neuen Menschenbild die kulturale Wende der westlichen Welt vorweggenommen hat". Insgesamt bietet Angelovas Studie wegweisende Überlegungen, die der Canetti-Forschung der nächsten ausreichend Stoff zum Weiterdenken bieten wird.

Titelbild

Penka Angelova: Elias Canetti. Spuren zum mythischen Denken.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2005.
318 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-10: 3552053271

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