"Das Bruderproblem reizt mich immer"

Helmut Koopmann auf der Suche nach Spiegelungen der "ungleichen Brüder" im Werk Thomas und Heinrich Manns

Von Laura WilfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Wilfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Bruderproblem reizt mich immer", notiert der junge Autor Thomas Mann um 1905. Darum soll auch Friedrich dem Großen in dem gleichnamigen "ehrgeizigen" Romanprojekt Thomas Manns eine brüderliche "Gegenfigur" zur Seite gestellt werden. Doch der Friedrich-Plan, der ein "Meisterwerk" um einen "Helden aus eigenem Erleben" werden sollte, wird schließlich aufgegeben. Das historische Genre hat Thomas Mann schon damals, scheinbar großzügig, dem älteren Bruder überlassen wollen, und im Nachlass Heinrich Manns wird man dann auch einen dramatischen Entwurf finden: "Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen" zeigt einen einsamen, an der väterlichen Tyrannei verhärteten Menschen, der den Helden, wie ihn Thomas Mann in dem früheren Projekt ausmalte, gründlich konterkariert.

Dieser "Friedrich" Thomas Manns trägt unverkennbar die Züge des Autors, er ist nur eines der zahlreichen Selbst- und Bruderportraits, die Helmut Koopmann im Werk beider Mann-Brüder ausmacht. Auf der Suche nach Spiegelungen nicht allein des "Bruderproblems", wie Thomas Mann ein "reizvolles" literarisches Motiv umschrieben hatte, sondern der Bruderfigur im Kontext des jeweiligen literarischen und nicht zuletzt persönlichen Selbstbestimmungsprozesses, hat Koopmann ein facettenreiches Bild dieses "ungleichen" Bruderverhältnisses entwickelt, das über das Doppelportrait, wie es der Titel des Buches etwa erwarten lassen mag, weit hinausreicht. Nicht zufällig verweist der Autor einleitend auf die wenigen Fotografien, die die Brüder gemeinsam zeigen und die ihm, vorbehaltlich der Zufälle oder Absichten des Fotografen, "aussagekräftig genug" scheinen: "Es ist Heinrich, der auf Thomas blickt, und Thomas wendet sich nicht gerade ab vom Bruder, aber er reagiert auch nicht auf ihn" - das berühmte Doppelportrait aus der Zeit um 1900 erweist sich als geradezu programmatisch für ein Verhältnis von lebenslanger Anziehung und Abstoßung voneinander.

"Ungleiche Brüder" - das mag zunächst für den um vier Jahre jüngeren Thomas bedeutet haben, einen "Vorsprung" aufholen zu müssen, mit dem älteren Bruder nicht nur gleichzuziehen, sondern ihn stets überbieten zu wollen, um nicht der Nachkömmling, der Mitläufer, der Zweite zu sein. Als Thomas Mann zu schreiben beginnt, ist Heinrich bereits mit einer ganzen Reihe von Erzählungen, Skizzen, Novellen an die Öffentlichkeit getreten; Thomas' erste "literarische Kleinigkeit" hingegen, eine "Farbenskizze", die er mit "Vision" überschreibt, wird von der "Lübecker Zeitung" schnöde abgelehnt. Mit dieser "frühen Visitenkarte" des gerade 18-jährigen Thomas Mann eröffnet Koopmann den Reigen literarischer (Selbstbe-)Spiegelungen, die vor allem im Schreiben des Jüngeren von geradezu existenzieller Bedeutung sind - nicht zuletzt erweist sich der Spiegel bis in seinen letzten Roman hinein als das "Lieblingsmobiliar auch Thomas Manns". Die "Vision" des sprachgewaltigen Künstlers, von Koopmann als "Lebensentwurf" des jungen Schriftstellers gelesen, liefert auch den Prospekt für ein Thomas-Mann-Bild, das der Autor dieser Studie im Wechselspiel mit dem des Bruders Heinrich entwickelt.

Stets ist jener, so scheint es, zuerst am Zug, scheint den Jüngeren unwissentlich in seinen Schatten zu verweisen, aus dem dieser sich langsam erst wieder hervorarbeiten muss - ein späterer Vorwurf Thomas Manns an seinen Bruder wird sein, er sei ein "Schnellfertiger", einer der "Schnellzufriedenen, die nicht unter dem Druck und der Zucht des Talents lebten", kurz: kein wahrer Künstler. Dennoch: Wahrend der gemeinsamen Zeit in Rom und Palestrina Ende der 1890er Jahre, wird Heinrich seine geistige Zugehörigkeit zur romanischen Welt entdecken, zum realen Italien wie zum literarisch-philosophischen Universum Frankreichs, das ihm bis in die ersten Exiljahre hinein Halt und Heimat gibt. Nach diesem Italienaufenthalt erst wird sich Thomas demonstrativ von "dieser ganzen bellezza" abwenden und sich für das nordisch-kühle Lübeck entscheiden, die Vaterstadt der Brüder, die nach dem Tod des Vaters 1891 und dem Wegzug der Mutter nach München nun zur Kulisse eines recht autobiografisch gefärbten Schreibens wird. Doch auch bevor Thomas seine "Buddenbrooks" endgültig zu Papier bringen kann, hat Heinrich schon einen Familienroman vorgelegt: "In einer Familie" (1894), stellenweise der des Verfassers nicht ganz unähnlich, erzählt eine dramatische, doch in ihrem positiven Ende den Naturalismus überwindende Beziehungsgeschichte. Die bereitete in ihrer Konventionalität den Boden für jenes Drama des Verfalls, wie es die Geschichte der "Buddenbrooks", zunächst unter dem bildlichen Titel "Abwärts", wenige Jahre darauf vorstellen sollte.

Der später nobelpreisgekrönte erste Roman Thomas Manns ist eine wohlvorbereitete Antwort des jüngeren Bruders auf den Roman Heinrich Manns und ein erster, weithin sichtbarer Ausdruck jener "Überbietungsbegierde", die Koopmann bis hin zum letzten Werk Thomas Manns ausmacht, den "Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull", die erst nach Heinrichs Tod fertig gestellt werden. Den "Niedergang einer Familie" in den "Buddenbrooks" begleitet die Geschichte einer Bruderbeziehung, von denen einer bezeichnenderweise den Namen Thomas trägt. Kalt, zurückweisend, selbstgerecht sei dieser, wirft ihm der Bruder Christian entgegen, und wenn Thomas Buddenbrook hier in "alles enthüllender Selbstanalyse" nur noch zu entgegnen weiß: "Ich bin geworden, wie ich bin, weil ich nicht werden wollte wie du", so spricht aus ihm nicht zwangsläufig das Alter Ego des Autors, so doch die Unsicherheit, die Haltlosigkeit des ehrgeizigen Konkurrenten seines älteren Bruders. Eine der "Gründungstaten des Schriftstellers Thomas Mann", damit schließt Koopmann das "Buddenbrooks"-Kapitel, sei die "Abwehr des Anderen, und das hieß: die Abwehr Heinrichs" - der Roman eines Verfalls birgt eine Kampfansage, ein literarisches Bekenntnis zur "feindlichen Brüderschaft, zur brüderlichen Feindschaft".

"'In inimicos', sagtest Du, 22jährig am Klavier sitzend in via Argentina trenta quattro, nach rückwärts gewandt gegen mich." - Heinrich wird sich an diese Szene erinnern, sie wohl auch literarisch zu verarbeiten wissen (in "Der Kopf", 1925); der Brief, aus dem diese Zeilen stammen, erreicht den Bruder Thomas jedoch nicht. "So ist es geblieben für Dich", setzt Heinrich in dem Brieffragment von 1918 hinzu und resümiert damit etwa zwei Jahrzehnte "einer Brüderlichkeit, in der der Haß regiert", wie Helmut Koopmann ein Kapitel - vielleicht doch etwas pathetisch - überschreibt. Auch bleibt es ein äußerst komplexes Verhältnis zweier schriftstellernder Brüder, die zunächst durchaus den kritischen Austausch ihrer Werke, Ideen, Projekte pflegten. In literaturkritische Resonanz gekleidet zeigt sich auch der so genannte "Vernichtungsbrief", den Thomas Mann am 5. Dezember 1903 seinem Bruder zukommen lässt: Aus dem Lob einiger kleiner Episoden aus der "Jagd nach Liebe" (1903) entwickelt er einen donnernden Rundumschlag, der Heinrichs dichterische Existenz komplett in Frage stellen, ihn quasi "zum Abdanken zwingen" soll - die Novelle "Königliche Hoheit" wird das auch literarisch vorführen. Von stilistischer Unangemessenheit, übertriebener Wirkungssucht und der schon erwähnten "Schnellfertigkeit" reicht die Palette der brüderlichen Vorwürfe, nicht zu vergessen Thomas Manns moralistisch gewandete Aversion gegen den "fortwährenden Fleischgeruch" in Heinrichs Werk. Er verurteilt hier jenen "Typus Henry", über den er früher notiert hatte: "Der Litterat als Abenteurer. Man ist als Litterat innerlich immer Abenteurer genug. Äußerlich soll man sich gut anziehen, zum Teufel, und sich benehmen wie ein anständiger Mensch".

Koopmann begreift den "Vernichtungsbrief" als einen der wiederkehrenden Versuche Thomas Manns zur literarischen Selbstbestimmung: "Das Literatenproblem ist das ureigenste Problem Thomas Manns", das zeigt noch deutlicher das Material zu dem nicht ausgeführten "Literatur"-Essay (1908) - und ganz offensichtlich ist das "Bruderproblem" ein kaum abzulösender Teil davon. Wenn Heinrich dagegen von der "Tragödie unserer Brüderlichkeit" spricht, signalisiert er eigentlich sein Zurückweichen in diesem ungleichen Kampf, den ihm der Jüngere augenscheinlich anträgt: Seine Reaktionen sind, trotz aller Verletzung, versöhnlich und erklären sich aus der von Heinrich stets wiederholten emotionalen Verbundenheit mit "dem Ersten unter den wenigen, denen ich mich ein wenig näher fühlen möchte". Die komplexe Widersprüchlichkeit dieses Bruderverhältnisses erfährt durch die Entwicklung der politischen Lage um 1914 eine entscheidende Zuspitzung, die zum scheinbar endgültigen Bruch zwischen beiden über fast ein Jahrzehnt führt. Thomas Mann, "fürs Repräsentieren geboren", wie er selbst festgestellt hatte, wird seinen Begriff von Kultur und dementsprechend der Rolle des Künstlers im ausdrücklichen Gegensatz zu jenen "Civilisationsliteraten" entwickeln, die, allen voran sein Bruder Heinrich, der deutschen - kriegsbereiten - "Seele" einen vergeistigten Snobismus, gänzlich unpatriotisch nach französischem Vorbild, entgegenzusetzen versuchten. Die "Betrachtungen eines Unpolitischen", als empörte Antwort auf Heinrichs "Zola"- Essay, der die Intellektuellen zur Parteinahme aufrief, lassen sich dann, urteilt Koopmann, auch "als Anklageschrift gegen den Bruder" lesen - eine großangelegte Invektive, der sich Heinrich entzieht, indem er sie nicht liest, noch einmal zurückweicht: "Was mich betrifft, ich empfinde mich als durchaus selbständige Erscheinung, und mein Welterlebnis ist kein brüderliches, sondern eben das meine." Wo er hinzufügt: "Du störst mich nicht", scheinen zwischen den Brüdern alle Brücken abgebrochen.

Das Blatt wird sich wieder wenden, auch das der Geschichte. Die 20er-Jahre bringen zwei große historische Romanprojekte, Thomas Manns Josephsromane und Heinrich Manns Doppelroman über Henri Quatre. Mit der Korrespondenz kommt eine Wiederannäherung der Brüder in Gang, gemeinsame Geburtstagsfeiern und öffentliche Auftritte folgen - und dennoch: Thomas Manns Tagebücher bleiben ein denkwürdiger Zerrspiegel zur öffentlichen Belobigung des Bruders, der ihm den zweiten Band seines Henri widmet als "Dem Einzigen, der mir nahe ist." Das Exil schließlich, ein gemeinsames Schicksal, scheint die Brüderlichkeit noch einmal zu erzwingen, doch als auch für Heinrich die Flucht nach Amerika unumgänglich wird, nehmen die Brüder unterschiedliche Wege: Thomas Mann verlässt Europa, mehr oder minder überzeugt, seinem Postulat "Wo ich bin, ist die deutsche Kultur" und den entsprechenden Repräsentationsaufgaben des Künstlers treu bleiben zu können, selbst in einer "blühend kulturlosen Landschaft", als die sich Amerika, namentlich Kalifornien, den deutschen Emigranten darstellt. Für Heinrich Mann dagegen, fast 70-jährig, geht mit der Abreise aus Europa eine Welt unter, seine kalifornischen Jahre zeigen sich als Prozess zunehmender Vereinsamung, geprägt vom Freitod seiner Frau Nelly, der von Bruder Thomas so verachteten, von nie endenden Geldsorgen und nicht zuletzt der zunehmenden Entfernung vom Bruder, der sich in dieser fremden Welt recht passabel hatte einrichten können.

Heinrich liest noch einmal die "Buddenbrooks", zeichnet - neben den karikaturalen und erotischen Erinnerungen an Früheres - Lübecker Ansichten, das "Paradies einer später verlorenen Gemeinsamkeit"; der Bruder ist geschmeichelt und befremdet, begegnet ihm mit ähnlichem Unverständnis wie den beiden späten Romanen Heinrichs, die ihn, den Jüngeren, Erfolgreichen, doch um so deutlicher ansprechen wollen: In "Der Atem" (1947) kehren die "Brüder als Schwestern" wieder, die "Geschichte einer lebenslangen Beziehung voller Haß und Liebe" endet mit dem Tod und dem "literarischen Abschied" Heinrichs, der damit "das Wort niederlegt", so deutet es Koopmann. Von Thomas Mann fehlen sowohl Lektürevermerk als auch Kommentar - ein mögliches Zeichen, dass auch das "Bruderproblem" an Brisanz verloren haben mag. Geblieben ist einzig "das Problem Heinrich": ein kranker und verarmter, schnell gealterter Bruder, der finanziell unterstützt, besucht und freundschaftlich beraten wird.

"Rückblicke, öffiziös: Heinrich Mann über Thomas, Thomas Mann über Heinrich" ist das letzte Kapitel der Brüderbiografie betitelt: Eine vergleichende Analyse gegenseitiger Portraits, die charakteristische Übereinstimmungen und bezeichnende Unterschiede zu jenen Darstellungen zeigen, die Helmut Koopmann im Werk und den Aufzeichnungen beider Schriftsteller identifiziert hat. Versucht Heinrich zum 70. Geburtstag des anderen in dem Wunsch, "ein Buch gemeinsam schreiben zu wollen", das brüderlich-Vereinende beinahe zu beschwören, erscheint Thomas' 1946 gehaltene Rede über den Bruder "wie ein Nachruf zu Lebzeiten", ein verschöntes Bild der einsamen letzten Jahre Heinrichs - eine "ziemliche Lüge", schreibt Koopmann. Dass der tatsächliche Nachruf wenige Jahre darauf ausdrücklich auf den früheren Text rekurriert, mag für Thomas Mann die endgültige Auflösung des "Bruderproblems" bedeuten: "zu Heinrich fiel dem Bruder nichts mehr ein".

Charakterlich kommt Thomas Mann in der brüderlichen Gegenüberstellung nicht gut weg - biografisch keine Neuheit, dennoch in dieser konzentrierten Analyse der Brüderlichkeit von Thomas und Heinrich Mann ein erhellender Beitrag, auch und vor allem zur Werkbetrachtung. Ein langes, enorm umfassendes Buch hat Helmut Koopmann mit dieser Brüdergeschichte vorgelegt, von außerordentlichem Detailreichtum, der die profunde Kenntnis des Thomas- und auch Heinrich Mann'schen Werks zeigt. Das Buch eröffnet einen Zugang zur Biografie über das Werk, nicht, wie so häufig, umgekehrt. Für den Thomas- fast mehr noch als für den Heinrich-Mann-Kenner mag das ein willkommener Anstoß zum Wiederlesen, vor allem zu einer vergleichenden Relektüre unter einer neuen Perspektive sein.

Titelbild

Helmut Koopmann: Thomas Mann - Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
531 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3406527302

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