Zwischen den Welten

Ricarda Junges Romandebut zeigt sich unentschlossen

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Kein fremdes Land“ lautet der Titel des Romans, mit dem die 1979 geborene Autorin Ricarda Junge derzeit auf Lesereise ist. Bereits in ihrem Erzählband „Silberfaden“ wechselten die Handlungsorte zwischen Deutschland und den USA. Diesmal pendelt der Ich-Erzähler Tom zwischen den Ländern BRD und USA, aufgewachsen ist er in Deutschland. Von dort brachte er nicht nur seine Liebe zu Maria mit, sondern auch Konflikte rund um die damalige Clique, mit seinen Freunden Schnitzer und Leon. Ein Besuch von Maria und Leon lässt diese alten Konflikte wieder aufbrechen, Rückblenden zeigen die Verworrenheit innerhalb dieser Gruppe, die stete Konkurrenz zwischen Tom und Schnitzer, Leons nüchterne Haltung, Marias unsichere Position in diesem Jungmännergerangel. Maria kehrt zu Schnitzer zurück, der so genannt wird, weil er seine Partnerinnen mit einem Messer zurecht schnitzt, Maria ist entsprechend mit kleinen Wunden und Brandmalen übersät, was Tom allerdings erst im Nachhinein erfährt. Diese tragische Drei- und Viereckskonstellation wird im ersten Drittel des Romans beschrieben. Dann kommt Terry ins Spiel. Sie ist Toms Nachbarin, eine Lehrerin, die von einem Schüler verletzt wurde. Mit ihr zieht Tom in einen Vorort, in das alte und völlig heruntergekommene Haus von Terrys erst kürzlich verstorbener Mutter. Ihr Umgang miteinander ist problematisch, weil beide zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind.

Terry wird wieder von einer Schülerin angegriffen, von der deutschen Christiane, die mit ihren Eltern in die USA gekommen ist. Tom, der als freier Journalist arbeitet und kaum Geld hat, wird von Terry genötigt, sich um Christiane zu kümmern, was zunächst misslingt. Die junge Frau will zurück nach Deutschland, weil sie in ein Umerziehungscamp gebracht werden soll und sich ihrer Rechte auf Individualität massiv beraubt sieht in einem System aus starren Sicherheitsregeln und Wachleuten. Die Mutter, ständig alkoholisiert, fliegt allein zurück und lässt die Tochter im Stich.

Christianes Anwesenheit ändert die morbide Atmosphäre, zu der auch einige unerklärliche Selbstmorde junger Mütter beitragen, über die Tom berichten soll. Und dann ist da noch Juana, die von einer religiösen Familie adoptiert wurde. Da die Gemeinde alles bezahlt, gibt es sonntags einen organisierten Massenbesuch im Haus dieser Familie. Juana ist der einzige Mensch, zu dem Christiane sich in ihrer großen Einsamkeit hingezogen fühlt.

Ricarda Junge trägt in ihrem Roman einiges an Kritik zusammen: Da wäre die Hochsicherheitsschule, in der auch das Verhalten des Einzelnen aus Sicherheitsgründen so angepasst wird, dass Individualität nicht möglich ist. Damit verbunden ist im letzten Drittel des Romans die Episode rund um die Adoption, deren Begleitumstände gruselig anmuten, wenn der Leser mit dem Besucherstrom durch das Haus geführt wird. Und schließlich der Protagonist Tom, der unscheinbar bleibt, ohne Profil, mit sich nichts anzufangen weiß. Gespräche zwischen den Figuren bleiben stecken, innere Konflikte werden zwar angedeutet, aber nicht ausgeführt oder aufgelöst, sodass man nach dem Lesen ratlos zurückbleibt und sich fragt: Wie geht es weiter? Die Geschichte ist doch noch nicht zu Ende. Aber vielleicht wollte die Autorin gerade das, die Geschichte nicht bis zum Ende erzählen.

Der Roman ist unterhaltend geschrieben, doch es fehlt ihm an Ausgewogenheit. Die Durchdachtheit der Handlung, die Verbindung zwischen den einzelnen Figurengruppen und das Durcharbeiten der Konflikte nicht nur zwischen, sondern auch in den Figuren selbst ist mangelhaft. Vielleicht kommt dieser Eindruck des Unfertigen daher, dass sich zu viele Themen auf den 280 Seiten drängeln. Die zwei Länder und dazu das Hin und Her, das zwar Gerüst bietet, dem aber nur wenig erzählerisches Leben eingehaucht wird. Man weiß nicht recht, worauf der Roman hinaus will. Die Lakonie jedenfalls, die sich aus der nüchternen Schreibweise ergibt, passt hervorragend zur Stimmung aller Figuren.

Es ist aber auch vor dem Hintergrund realer Erfahrungen der Autorin ein Buch mit heftiger Kritik an einem Land, das Kinder im Namen von Sicherheit und Fortschritt drillt, das arme Menschen in den Tod treibt und in dem Religiosität post-kolonialistische Formen annehmen kann. Ein land, das so sicherheitsüberwacht ist, dass jeder Schritt der letzte sein kann und in dem gewalttätige Übergriffe an der Tagesordnung sind. Wer hier schlussendlich die Bedrohung darstellt, bleibt offen.

Titelbild

Ricarda Junge: Kein fremdes Land. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
282 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3100393252

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