Das Morgenland aus der Sicht eines Realisten

Aleksandr Puschkins "Reise nach Arzrum"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer eine Reise unternimmt, der kann etwas erleben. Dem russischen Dichter Aleksandr Puschkin begegnete auf seiner Reise nach Arzrum (heute Erzerum) im türkischen Armenien ein Geistlicher, "der von Eriwan nach Achalzyk unterwegs war. Was gibt es Neues in Eriwan? fragte ich ihn. In Eriwan ist die Pest, antwortete er; und was hört man aus Achalzyk? In Achalzyk ist die Pest, antwortete ich ihm. Nach dem Austausch dieser angenehmen Neuigkeiten schieden wir voneinander."

Die denkwürdige Reise sollte das einzige Mal sein, daß Puschkin die Grenzen von Mütterchen Rußland überschritt. 1829, als es mal wieder zu einem der vielen, heute vergessenen Kriege zwischen Rußland und der Türkei kam, reiste Puschkin, der gerade seinen Versroman "Evgenij Onegin" beendet hatte, auf eigene Faust und gegen das Gebot des Zaren ins Kriegsgebiet. Das Tagebuch dieser Reise veröffentlichte er Jahre später in der ersten Ausgabe seiner Zeitschrift "Sovremennik". Aus heutiger Sicht stellt es einen Meilenstein in der russischen Literatur dar, wie der Übersetzer und Herausgeber Peter Urban in seinem kenntnisreichen Vorwort darlegt. Der lakonische, angenehm schmucklose und stellenweise satirisch gefärbte kurze Text darf mit einigem Recht als die Geburtsstunde der russischen Prosa angesehen werden, er begründete eine literarische Tradition: Viele russische Intellektuelle brachen in der Folge auf, um den Menschen in den großen Städten Nachrichten aus den unbekannten Weiten Rußlands und der neu eroberten Gebiete zu geben. Turgenevs "Aufzeichnungen eines Jägers" und Tschechovs "Insel Sachalin" haben Puschkins "Reise nach Arzrum" zum Ahnherrn.

Dabei zeigt sich die Weitsicht und Modernität Puschkins darin, daß er in seinem Tagebuch scheinbar en passant die Probleme benennt, die sich Rußlands Zaren mit ihrem Eroberungswahn einhandelten. Probleme, die heute von erschreckender Aktualität sind. In seinen teils witzigen, teils drastischen, immer aber spannenden Darstellungen von russischen Beamten, Wasserpfeife rauchenden türkischen Paschas, muselmanischen Harems und der von Krieg und Pest heimgesuchten Stadt Arzrum bietet Puschkin dem Leser ein beeindruckend realistisches Bild des Morgenlandes, fern aller Karl-May-Romantik; ein Realismus, für den Puschkin lange Zeit politisch wie stilistisch angefeindet wurde.

Titelbild

Alexander S. Puschkin: Die Reise nach Arzrum während des Feldzugs im Jahre 1829. Aus dem Russischen von Peter Urban.
Friedenauer Presse, Berlin 1998.
144 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3932109090

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