Das wahre Gesicht im Abbild der Maske

Der Marbacher Katalog zur Ausstellung "Archiv der Gesichter"

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Tod ist ein sehr mittelmäßiger Porträtmaler. Ich meinerseits will ein seelenvolleres Bild, als seine Masken, von meinen sämtlichen Freunden aufbewahren." Goethes Entschluß, sich keine Totenmaske abnehmen zu lassen, scheint in diesen Äußerungen beim Anblick der Wielandschen Maske begründet zu sein. In einer Totenmaske läßt sich keine Seele abbilden, allein der Sieg des Todes über den Menschen, und sei er noch so vergeistigt, wird dokumentiert.

Dennoch, oder gerade deswegen, lohnt der Blick in den Katalog zur aktuellen Marbacher Ausstellung. 125 Exponate, Toten- und Lebendmasken, umfaßt die Ausstellung, die vom 5. März bis zum 30. April im Kasseler Museum für Sepulkralkultur wieder zu sehen sein wird, darunter so eindrückliche Masken wie die von Ludwig Uhland oder Arthur Schnitzler. Die älteste Maske der Sammlung des Schiller-Nationalmuseums zeigt Oliver Cromwell, die jüngste Heiner Müller. Gezeigt werden Masken von Dichtern, Politikern, Malern, Komponisten, Philosophen durch die Jahrhunderte: Brecht und Benn, Nietzsche und Hegel, Beethoven und Wagner, nicht zu vergessen Schiller, Goethe (Lebendmaske) und Lessing, dem die Ehre gebührt, der erste Dichter und Bürger gewesen zu sein, dessen Züge im Jahr 1781 in Gips festgehalten wurden.

Der Katalog, das "Archiv der Gesichter", zeigt alle 214 Masken der Sammlung; die selteneren Handabgüsse, es befinden sich gerade 26 in der Sammlung, darunter die Goethes oder Zuckmayers, werden nur ins Gesamtverzeichnis aufgenommen. Zusätzlich bieten sich dem Leser aber einführende Aufsätze, etwa zur Geschichte der Totenmaske und ihrer Verwendung sowie zur Entstehung von Schillers Maske in der Praxis, die gleichzeitig das Problem der Verfälschung - die schmalen Lippen wurden kräftiger gemacht, die Wangen gehoben - verdeutlicht. Dies führt direkt zum generellen Dilemma der Maske. Meint Franz Joseph van der Grinten in ihr zugleich "Verewigung und Preisgabe" der Künstlerpersönlichkeit zu erkennen, die Künstler in "ihrer letztendlichen Menschlichkeit" greifbar und "von allem Distanzierenden entkleidet, menschlich nah", so stellt sich bei Durs Grünbein die Frage nach dem wahren Gesicht hinter der Maske anders. In seinem Essay "Das aufgegebene Gesicht" vergleicht er das Bild des Schlafenden mit dem des Toten. Das betrachtete Subjekt ignoriert in beiden Zuständen Zeit und Raum, sein Gesicht ist "losgelöst von jedem Ausdruckszwang", sein Schädel wird zum Objekt: "Hier wie dort ist alles Geschehen sosehr nach innen verlegt worden, dass das Gesicht als leerer Spiegel zurückblieb." In einem solchen Spiegel lassen sich weder Reflexion noch Expression ablesen. Das Menschliche selbst schwindet aus den Zügen, das wahre Gesicht, sollte es überhaupt zu fixieren sein, gibt sich hier nicht zu erkennen. Daher scheint es logisch, wenn für Grünbein die Maske einer verschlossenen Tür gleicht, "hinter der schon der Verfall beginnt". Sie ist Stillstand, der keine Vollendung zeigt, sondern jähern Abbruch, die letzte Momentaufnahme in einer langen Reihe von Variationen und Transformationen (und Masken), welche das menschliche Antlitz definieren, das nun nicht mehr an der täglichen Maskerade teilnimmt.

Für den Besuch der Ausstellung wie für das Betrachten des Katalogs kann abschließend Grünbeins Diktum gelten: "Was immer sich ablesen läßt vom Gesicht einer Toten, bleibt nunmehr der Andacht des Betrachters überlassen."

Archiv der Gesichter. Toten- und Lebendmasken aus dem Schiller-Nationalmuseum.

Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs und der Stiftung Museum Schloß Moyland in Verbindung mit dem Museum für Sepulkralkultur in Kassel.

Titelbild

Michael Davidis / Ingeborg Dessoff-Hahn: Archiv der Gesichter. Toten- und Lebendmasken aus dem Schiller-Nationalmuseum.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach 1999.
391 Seiten, 20,50 EUR.
ISBN-10: 3933679206

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