Das Leben ein Spiel

Ein Ausstellungsband des Deutschen Hygiene-Museums eignet sich als Einführung in ein wichtiges Thema

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kinder tun es, Erwachsene tun es auch. In den Medien ist es allgegenwärtig: das Spiel. Wer einen Gegensatz zum Ernst des Lebens vermutet, der liegt falsch. Auch das zwischenmenschliche Zusammenleben funktioniert nach bestimmten Spiel-Regeln, die Struktur ist die gleiche, die Übergänge sind fließend. Ein Glücks-Spiel in einer Spiel-Bank kann einen Menschen ruinieren, das Missachten der gesellschaftlichen Spiel-Regeln kann ihn ins Gefängnis bringen. Spielen scheint etwas elementar Menschliches zu sein, bereits Friedrich Schiller hat es zum Mittelpunkt seiner philosophischen und literaturtheoretischen Überlegungen gemacht. In seiner grundlegenden Schrift "Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen" heißt es (im 15. Brief): "Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt."

Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden hat schon öfters ein Gespür für zentrale, aber unter Wert gehandelte Themen bewiesen. So auch diesmal: Es hat eine Ausstellung dem Spiel und Spielen gewidmet. Auch wenn die Ausstellung nur noch bis Ende Oktober 2005 läuft, der begleitend dazu erschienene Ausstellungskatalog dürfte oder sollte zumindest bleibenden Wert haben. Zwar wird auch der Aufbau der Ausstellung erläutert und bebildert, den größten Teil des Bandes machen aber Aufsätze zum Thema aus, die das leisten, was eine Visualisierung des Themas allein nicht zu leisten vermag. Aufgeteilt in die Abschnitte "Spielen", "Wettkampfspiele", "Identitätsspiele", "Strategiespiele" und "Glücksspiele" wird das weite Feld des Spielens überblicksartig auf essayistische Weise vermessen.

"Die Welt, ein Spiel?", fragt Sybille Krämer einleitend. Ob das Spiel als "Modell" tauge, um "unser Welt- und Selbstverhältnis zu kommentieren"? Und ob die Fähigkeit des Menschen, auch das Nicht-Spiel als Spiel zu betrachten, "nicht der überzeugendste Selbst-Ausdruck unseres spielerischen Vermögens" sei? Die Beiträge des Bandes legen die Vermutung nahe, dass man diese Fragen mit einem uneingeschränkten Ja beantworten kann.

Ulrich Schädler bietet einen interessanten Einblick in die Geschichte des Brettspiels mit originellen Seitenblicken auf weniger bekannte Variationen, Sigrid Walther leistet ähnliches für das Glücksspiel. Axel Heimsoth nimmt Wettkampfspiele als "Spiegel und Gegenwelt" gesellschaftlicher Gegebenheiten in den Blick. Nicht nur der Sport ist ein Spiel mit bedeutender Funktion für die Identitäts- und Gruppenbildungsprozesse. Von Shows im Fernsehen bis zur Börsenspekulation öffnet sich ein weites Feld des Wettkampfes nach vorgegebenen Regeln.

Das alles hat ein Vor-Spiel. Thorsten Tynior verweist auf Victor Turners Formulierung, Spielen sei ein "anthropologischer Joker". Für die Herausbildung der Persönlichkeit ist es unverzichtbar, zugleich entzieht es sich "einer rationalen Erfassung und Steuerung ebenso wie einer abschließenden Definition oder der Funktionalisierung als Erziehungsmittel". Kinder lernen spielend, sich in ihrer Welt zurecht zu finden, ihren Alltag zu bewältigen. Die Geburt der Problemlösungskompetenz aus dem Spiel hebt Jürgen Oelkers besonders hervor, er referiert Ergebnisse grundlegender Spieltheorien, insbesondere der Pädagogik.

Nur selten mischen sich dissonante Töne in das melodische Meta-Spiel. Verschiedene Beiträge, etwa der von Margret Kampmeyer-Käding, gehen auf Arten und Funktionen von Spielen im engeren Sinne ein, vom Brett- bis zum Computerspiel, das in diesem Band keine Kritiker, sondern nur Verteidiger findet: "Ein Kausalzusammenhang zwischen Computerspielen und Jugendgewalt ist bisher nicht nachgewiesen. Dass die perfekten, suggestiv wirkenden Bilder der virtuellen Welt einer Verwechslung mit der Realität Vorschub leisten, ist ein gängiges Vorurteil von Nichtspielern." Es mag sein, dass die oft kulturpessimistisch eingefärbte Kritik an der Computerspiel-Mode auch Gegenkritik erfordert. Andererseits ist die solchermaßen vorgebrachte Gegenkritik nicht weniger verfehlt. Die Wirkung von Computerspielen wäre empirisch nur mit einem Aufwand messbar, der nicht zu realisieren ist. Die vorhandenen Fallstudien geben nur den Blick auf Ausschnitte frei und widersprechen sich teilweise grundlegend. Einzelbelege, dass Computerspiele bei entsprechender Disposition des Spielers fatale Folgen zeitigen können, gibt es genug. Wer Kinder beim Computerspielen beobachtet hat, der weiß, dass sie sich durchaus mit dem, was auf dem Bildschirm geschieht, identifizieren können. Und wer die sozialen Probleme der heutigen Gesellschaften kennt, der weiß auch, dass es Kindern nicht immer leicht gemacht wird, die notwendige Distanz zu solchen Spielen aufzubauen. Sollte dies alles nicht Grund genug sein, eine Diskussion über die notwendige Qualität von Computerspielen zu führen statt Maulkörbe zu verteilen? Die Zusammenstellung "Argumente pro und contra Gewalt in Computerspielen" von Markus Sailer sei nicht verschwiegen, aber die ausgewählten kritischen Stimmen klingen so ideologisch und negativ, dass die Sympathie des Lesers auf jene gelenkt wird, die selbst in besonders gewalttätigen Computerspielen keinerlei Gefahr sehen.

Von der Vielzahl der lesenswerten Beiträge sei nur noch der abschließende Gerhard Schulzes hervorgehoben, betitelt "Das Leben, ein Spiel" und mit einem programmatischen Untertitel versehen: "Spiel und Wahrheit sind kein Gegensatz." Für Schulze ist "fast alles menschliche Tun ein Spiel, eine Inszenierung, ausgerichtet an einem Drehbuch". Der bekannte Soziologe der Gegenwart bestätigt also Schillers am Ausgang des 18. Jahrhunderts gestellte Diagnose. "Spiele sind die Wahrheit des Bewusstseins", meint Schulze, eine Einsicht, aus der Schiller die Schlussfolgerung gezogen hatte, dass die Menschen durch Literatur und Theater spielerisch zu einer besseren Existenz geläutert werden können. Literatur als Vor-Spiel zu einem Paradies auf Erden. Doch war Schiller klug genug, nicht daran zu glauben, dass sich sein Ziel realisieren lässt; es bleibt "immer nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann". Da die Wirklichkeit aber nicht ohne dieses Ziel auskommen kann, lässt sich vielleicht abschließend feststellen, mit Aufforderungscharakter verbunden: Das Spiel ist das Ziel. Und wer sich mit den Spiel-Regeln seiner eigenen Existenz näher beschäftigen möchte, der sollte dieses Buch lesen.

Titelbild

Spielen. Zwischen Rausch und Regel.
Herausgegeben vom Deutschen Hygiene-Museum, Dresden.
Hatje Cantz Verlag, Stuttgart 2005.
180 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3775715657

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