Weltliterat, Zukunftspoet, Rebell

Sämtliche Märchen zum 200. Geburtstag des Dichters Hans Christian Andersen

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neben den Gebrüdern Grimm zählt der dänische Schriftsteller Hans Christian Andersen zu den Koryphäen der "Märchenonkel" schlechthin, da selbst bildungsferne Zeitgenossen seinen Namen mit Märchen wie "Die Prinzessin auf der Erbse", "Däumelinchen", "Die kleine Meerjungfrau" und "Des Kaisers neue Kleider" gleichzusetzen vermögen.

So berühmt der Name "Andersen" auch sein mag, so verdecken die genannten Märchentitel die Tiefe und Vielfältigkeit seines Werks. Anlässlich seines 200. Geburtstags eröffnet sich die Gelegenheit, den "ganzen" Märchendichter kennen zu lernen - bietet der Artemis & Winkler Verlag in einer handlichen, zwei Bände und mehr als 1500 Seiten umfassenden Edition sämtliche 156 Märchen des dänischen Nationaldichters in der Ausgabe letzter Hand, aus dem Dänischen übersetzt von Thyra Dohrenburg. Gesteigert wird das Lesevergnügen durch 259 historische Illustrationen, welche die Aussagekraft des gedruckten Wortes um die Imaginationskraft des Bildes verstärken sowie durch einen ausführlichen Anmerkungs- respektive Erläuterungsapparat, der manche chiffrierte (und harmlos anmutende Märchen-) Aussage historisch bzw. biografisch verortet und zeigt, zu welcher Zeitkritik Andersen fähig war. Nicht zu vernachlässigen ist ein umfangreiches Nachwort des Germanisten Heinrich Detering, das neben gattungstypologischen Fragestellungen neue Rezeptionshaltungen anspricht.

Dass sich Andersen mit seinen bekannten Volksmärchen den Ruf eines Weltliteraten erworben hat, braucht nicht eigens betont zu werden. Dies ist vor allem seinem Schreibstil geschuldet, der die Leser - die alten wie die jungen - unmittelbar anspricht und in den Bann zieht. Der Autor erreicht diese Wirkung vor allem durch die Nähe zur mündlichen Erzählhaltung, die beim Lesen das Gefühl erweckt, im "Gespräch" mit Andersen zu sein: "Ich greife eine Idee auf, die für Ältere gedacht ist - und erzähle sie dann den Kleinen, während ich daran denke, dass Vater und Mutter zuhören, und ihnen muss man etwas für den Verstand geben."

Daneben versteckt sich in der Märchenwelt des Hans Christian Andersen "die Suche nach einer neuen Poesie des technisch-industriellen Zeitalters" (Detering). Als Dichter des 19. Jahrhunderts musste er sich der ambivalenten Herausforderung des sozio-ökonomischen Wandels stellen. In "Die Seeschlange" deutet sich an, welche Veränderung das Eindringen der technischen Welt in das tradierte Zeichen- und Deutungsinventar des Märchens mit sich bringt. Ein kleiner Seefisch "aus guter Familie" wird während des Schwimmens im Schwarm konfrontiert mit einem "entsetzlichem Geräusch von oben" dergestalt, dass "mitten zwischen ihnen hindurch, ein langes, schweres Ding herab[sank], das gar nicht aufhören wollte; länger und länger wurde es, und jeder von den kleinen Fischen, der davon getroffen wurde, wurde zerquetscht oder bekam einen Knacks, von dem er sich nicht erholen konnte." Die Furcht veranlasst die Bewohner des Meeresgrundes zu diversen, aber letztendlich ergebnislosen Versuchen, mit dieser - nach Erzählung der erfahrenen Alten in vielen Mythen beschriebenen - "Seeschlange" in Kontakt zu treten und herauszufinden, was für ein Ding das nun wirklich sei. Interessant ist die überraschend pessimistische "Moral", die Andersen seinem Märchen mitgibt und die auf die unüberbrückbare Entfremdung von Mensch und Natur hinausläuft: Die Seeschlange als Fernmeldedraht "ist durch menschliche Genialität zur Welt gekommen und großgezogen worden, erstreckt sich von den Ländern im Osten zu den Ländern im Westen und bringt Botschaft so schnell wie der Strahl des Lichts von der Sonne bis zu unserer Erde. (...) Fische und Kriechtiere laufen mit der Stirn dagegen, sie verstehen das Ding von dort oben ja doch nicht."

In "Die Muse des neuen Jahrhunderts" entwirft Andersen ein Programm, wie Literatur auf diese Diastase reagieren kann. Das Fazit ernüchtert und zeigt, dass der Däne den Tod der klassischen Dichtung vorausgesehen hat: "Wie lautet das Programm der neuen Muse?" lautet die zentrale Fragestellung, "was will sie?". Die Antwort fällt negierend aus: "Frag lieber, was sie nicht will!".

Abseits dieser poetologischen Überlegungen reflektiert Andersens Werk auch den zeitgeschichtlichen Kontext des biedermeierlichen Dänemark. Als dichtender Staatsbürger verspottet er oftmals seine Heimat als "Entenhof" und versteckt seine Kritik im Kostüm des Märchens, wobei die unverhohlene Ablehnung unübersehbar ist: Im Märchen "Auf dem Entenhof" lässt er camouflageartig deutlich werden, was seine Landsleute "auszeichnete": "Die Enten sind sehr leidenschaftlich, entweder empfinden sie Neid oder Mitleid", denn "Die Enten (...) gehören zu den Schwimmvögeln (...). Uns kennen Sie noch nicht, aber wie viele kennen uns schon oder machen sich die Mühe! Niemand, nicht einmal unter den Hühnern, obgleich wir dazu geboren sind, höher zu sitzen als die meisten anderen. Das ist nun aber einerlei, wir gehen still für uns unter den anderen umher, deren Grundsätze nicht die unseren sind, wir sehen nämlich nur auf die guten Seiten und reden nur vom Guten, obwohl es schwer zu finden ist, wo es nicht vorhanden ist."

Auf den Punkt gebracht: Andersens Märchen sind zeitlos schön und lesenswert, für Kinder als Einstieg in das Lesen ebenso geeignet wie für erfahrene Leser, die die Welt mit anderen Augen sehen möchten, um so wichtiger für gestresste und überarbeitete Erfolgsmenschen, die ihre Fantasie auftanken wollen und müssen. Der Erzähler des Märchens vom Vater, der "immer das Richtige" tut, verspricht in diesem Sinne nicht zu wenig: "Jetzt werde ich dir eine Geschichte erzählen, die ich gehört habe, als ich klein war, und jedes Mal, wenn ich seitdem darüber nachgedacht habe, fand ich sie schöner."

Titelbild

Hans Christian Andersen: Sämtliche Märchen in zwei Bänden. Erster Band.
Mit einem Nachwort, Anmerkungen und einer Zeittafel herausgegeben von Heinrich Detering.
Übersetzt aus dem Dänischen von Thyra Dohrenburg.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2005.
748 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3538069913

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Titelbild

Hans Christian Andersen: Sämtliche Märchen in zwei Bänden. Zweiter Band.
Mit einem Nachwort, Anmerkungen und einer Zeittafel herausgegeben von Heinrich Detering.
Übersetzt aus dem Dänischen von Thyra Dohrenburg.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2005.
806 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3538069921

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