Embleme der Verlorenheit

Friedhelm Bertulies' Sammlung südkoreanischer Erzählungen

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Sympathie der Goldfische" - das weckt vertraute Vorstellungen vom Fernen Osten: Freundlichkeit, ein Lächeln vielleicht, und kleine, zierliche Lebewesen, im Bonsai-Gärtchen. Im Original heißt die Geschichte, die dieser Sammlung südkoreanischer Erzählungen den Titel gab, freilich derber: "Viel Scheiße in Nockchon" (1992); und die alte Überschrift trifft die Sache besser. Lee Changdong (geboren 1954) skizziert die Geschichte eines gar nicht einmal so abstoßenden Strebers, der sich aus ärmlichsten Verhältnissen allmählich emporgearbeitet hat und sich endlich mit seiner Familie das ersehnte Apartment leisten kann. Kaum ist die neue Wohnung bezogen, tritt sein Halbbruder auf: der Tunichtgut, der ihm früher stets vorgezogen wurde, studieren konnte und nun gleich seine Ehefrau für sich gewinnt. Im Kontrast fällt ihr auf, wie langweilig ihr ehrgeiziger Mann und wie tot ihre Ehe ist. Allerdings wird der Halbbruder als politischer Aktivist von der Polizei gesucht, und so taucht die Versuchung auf, ihn mittels Denunziation für lange Zeit loszuwerden.

Kleinlichkeit und Enge dominieren in dieser Erzählung. Nicht nur ist das Neubaugebiet im wörtlichen Sinne von Kot und Unrat durchtränkt, auch im Inneren der Personen findet sich viel Dreck, den Lee freilich nie herablassend vorzeigt. Es geht ihm darum, wie Menschen unter widrigen Bedingungen zu überleben versuchen - um die Anklage einer Arbeitswelt, die Unterwürfigkeit produziert und Charaktere zerstört, die Anklage politischen Drucks, der den Verrat nahe legt.

Keine Harmonie also; und diese realistische Wendung gegen das Klischee teilt die Titelerzählung mit den drei anderen, die mit ihr in diesem Band versammelt sind. Park Wan-Seo (geboren 1931) ist deutschen Lesern schon durch ihren in Südkorea wirkungsmächtigen feministischen Roman "Das Familienregister" (1989) bekannt. In "Die Gezeichnete" (1981) wird eine Frau mit dem Sterben ihrer Mutter konfrontiert, die sie zuvor für eine ruhige und friederfüllte Greisin hielt. In der krisenhaften Nacht nach einer Operation drängt aber nach Jahrzehnten der Verdrängung die Erinnerung an den gescheiterten Versuch, das Leben des politisch kompromittierten Sohnes zu retten, ins Bewusstsein. Die Wendung in die Vergangenheit rückt eine verdrängte Seite des Koreakriegs ans Licht: den "kleinen Krieg", die gegenseitigen Denunziationen und Verfolgungen der Koreaner von rechts und links, der lange Zeit für die Historiografie im Schatten der organisierten Armeen und ihrer Vorstöße und Niederlagen stand. Park stellt sich mit ihrer Erzählung in den Zusammenhang von zeitnahen Texten wie Yun Hunggils "Regenzeit" (1978) oder Jo Jong-Raes Romanen "Land der Verbannung" (1981) und "Das Spiel mit dem Feuer" (1982), die ebenfalls den Koreakrieg als Partisanenkrieg beschreiben.

Dabei interessiert alle diese Autoren weniger der Krieg an sich als seine Auswirkungen auf die Gegenwart. Im Mittelpunkt steht das Maß an Verdrängung, die die Betroffenen leisten mussten, und ebenso sehr die meist ungewollte Konfrontation der Jüngeren mit der Vergangenheit. Hier ist eine Parallele zu jenen neueren deutschen Diskussionen zum Zweiten Weltkrieg zu sehen, die auch das Leiden nun deutscher Opfer und die Wirkungen auf die Nachkommen in den Mittelpunkt stellen. Doch im Unterschied zu Deutschland heute begleitete der Opferdiskurs in Südkorea um 1980 keine immer selbstbewusstere Nation. Im Gegenteil wendete er sich gegen einen repressiven Staat, der im Schwarz-Weiß von bösen Kommunisten und guten Westlern Differenzierungen gerade nicht wollte.

Oppositionsliteratur also von Park und Lee; und auch Choi In-Suks (geboren 1953) "Bruder!" (1997, im Original: "Der versperrte Weg") handelt vom Widerstand. Freilich ist diese jüngste der vier Erzählungen schon während der Demokratisierung Südkoreas entstanden, in dem Jahr, in dem der einst von den Militärs mit dem Tode bedrohte Kim Dae-Jung zum Präsidenten gewählt wurde. Entsprechend kam die intellektuelle und kulturelle Elite der Opposition langsam in die Nähe der Macht - derweil das arbeitende Fußvolk unterdrückt bleibt. Choi nahm hellsichtig vorweg, was noch heute, acht Jahre später, gültig ist: eine formale Demokratisierung, die einer jungen, gut ausgebildeten bürgerlichen Schicht Perspektiven bietet, doch die Lage von Arbeitern und ihren Gewerkschaften nur wenig mildert.

Ausgangspunkt ist wieder eine beschädigte Familie. Der Mann ist als Aktivist einer konservativen Partei meist abwesend, die Frau als Ehebrecherin verrufen. Nach dem Suizid ihrer Mutter werden ihre beiden Söhne zu einem Verwandten nach Seoul geschickt und beginnen dort, in Fabriken zu arbeiten. Bald beteiligen sich beide am gewerkschaftlichen Kampf: der ältere Bruder, aus dessen Perspektive erzählt wird, voll Freude an der Möglichkeit, endlich einmal seinerseits Macht auszuüben - der jüngere, der nach dem Tod der Mutter in einen autistischen Zustand gefallen war, idealistisch und wie erlöst. Er vermag endlich zu reden und eine wichtige Rolle zu spielen, bis er sich bei einer Auseinandersetzung die Wirbelsäule bricht und verurteilt wird; der Ältere lakonisch: "Ich kaufte einen Rollstuhl für Sunu und gab ihn im Gefängnis ab."

Dieser ältere Bruder hat zu diesem Zeitpunkt schon durchschaut, wie studentische Aktivisten in Versammlungen der Arbeiter ihre Planungen durchzusetzen wussten. Sein Verdacht, die Arbeiter seien nur Figuren in einem Konflikt zweier Gruppen der herrschenden Schicht, scheint im Nachhinein bestätigt durch einen Roman, den eine der Aktivistinnen im Rückblick auf die Zeit der Kämpfe schreibt. So genau sie die Verhältnisse beschreibt: schon der Romantitel "Geliebte Illusion" verweist auf ihren Verrat. Sie verdient nun Geld mit der Erinnerung an eine Zeit, die den jüngeren Bruder, der sie früher liebte, zum Krüppel gemacht hat. Die Lösung, die dem älteren Bruder einfällt, reproduziert die Gewalt, die doch beseitigt werden sollte: Er bricht in die Wohnung der Schriftstellerin ein, um sie zu vergewaltigen; die nächtlichen Stunden, in denen er auf sie wartet, bieten die Zeit für die Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Der brutale Plan, der auf die Demütigung des Opfers zielt, erscheint gleichzeitig als Akt der Hilflosigkeit, ohne als solcher beschönigt zu werden.

Choi, der die Gewinnler der Opposition kritisiert, bekräftigt gerade dadurch die ursprünglichen Ziele des Widerstands; man wünschte sich einen ähnlich bissigen Text über Gewinnler, die sieben Jahre in einem rot-grünen Ministerium residieren konnten. Ganz anders und vielleicht gerade deshalb ist Yi Munyol in den letzten Jahren auf die Seite der südkoreanischen Rechten übergegangen, die sich der Demokratisierung der Gesellschaft widersetzen. Hier spielt wohl ein feiner Instinkt gegenüber jeglicher Machtausübung eine Rolle, ähnlich wie bei Martin Walser, der aus überfeinem Skrupel gegenüber ritualisiertem Gewissen schließlich bei gewissenloser Skrupellosigkeit endet. Yi Munyols Frühwerk "Befestigter Gesang" (1979), das fast die Hälfte der vorliegenden Sammlung einnimmt, ist noch ganz der widerständigen Seite solcher Sensibilität zugehörig. In den vier Tagen eines Manövers wird einem Offizier klar, wie hoffnungslos und leer das Leben der Soldaten ist und dass nicht Mut und Tatkraft, sondern Zufall und kleine Tricks über Erfolg oder Scheitern in der Welt des Militärs entscheiden. Durch Unfall und Selbstmord, durch Hass und Schlamperei gibt es Tote und Verwundete: Der auf Gewalt ausgerichtete Apparat demontiert sich selbst.

Das wirkt hoffnungs- und ausweglos, lässt aber nach Perspektiven fragen. Sie sind da, doch gering: individuell aufrichtig in der Haltung des Offiziers bei Yi Munyol, der sich um gerechte Menschenführung bemüht; in der Hoffnung bei Choi In-Suk, dass die Vergewaltigung ausbleibt, die doch nichts bessern würde; im Todeskampf der Mutter bei Park Wan-Seo, der ein Kampf ums Leben ist; in Spuren von Vernunft und Reue bei Lee Changdong.

Verschiedene Übersetzer haben die Texte von Park und Lee in lesbares, die von Yi und Choi in sehr gutes Deutsch gebracht - lässt man die teils unnötig frei übertragenen Titel beiseite. Das erleichtert den Zugang zu vier spannungs- und gehaltvollen Erzählungen, die wichtige Konflikte verallgemeinern. So wird weniger exotistisches Interesse befriedigt als gezeigt, wie die in Europa bislang zu wenig beachtete Nationalliteratur Koreas ihren Beitrag zur Weltliteratur leistet.

Und die Sympathie der Goldfische? Um seine Ehe zu retten, kauft Lee Changdongs Held das Aquarium, das sich seine Frau immer gewünscht hat, und dazu fünf Fische. Eingezwängt in der überfüllten U-Bahn, hat er den Eindruck, wenigstens die Fische blickten ihn mit Sympathie an. Als er endlich seine Wohnung am Stadtrand erreicht, sind die Tiere tot, ein Emblem der Verlorenheit: "Mit ihren weißen Bäuchen nach oben lagen die Goldfische da und starrten ihn mit weit geöffneten Augen an. Immer noch mit der gleichen Sympathie."

Titelbild

Friedhelm Bertulies (Hg.): Die Sympathie der Goldfische. Neue Erzählungen aus Südkorea.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
287 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3518417193

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