Popuniversum

Ein Wort - viele Inkarnationen

Von Susanne SchedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Schedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Alles so schön bunt hier" mag sich auch der Leser denken, wenn er das Inhaltsverzeichnis des kreischroten Reclam-Paperbacks überfliegt, dessen Autoren auf 300 Seiten "Die Geschichte der Popkultur von den Fünfzigern bis heute" -so der Untertitel- schreiben wollen. Alle Namen und Musikrichtungen des Popuniversums, von Elvis bis Techno, sind in diesem Inhaltsverzeichnis vertreten. Und es scheint fast, als sähen die Autoren die Zeit gekommen, die Auswüchse und Erscheinungsformen des Pop feinsäuberlich mit Etiketten zu bekleben und ins Museum zu stellen. Nur: Was ist denn überhaupt Pop?

Mit einer Begriffsdefinition plagen sich die Popgeschichtsschreiber von der ersten bis zur letzten Seite. Schon im Vorwort klagt das Herausgeberkollektiv: "Nach fünfzigjähriger Geschichte ist Pop an der Jahrhundertwende für alles zuständig. Aldi ist Pop, Easy Listening ist Pop, Politik ist Pop." Stuckrad-Barre nicht zu vergessen. "Der Begriff scheint zu einem folgenlosen Dummy-Term verkommen". Seufz. Pop sei ein Wort, daß mit Jugendkultur kaum noch etwas, mit Märkten und Machtpositionen aber sehr viel zu tun habe. Hier eine Auswahl an mehr oder weniger glücklichen Definitionsversuchen: "Pop steht für das Einfache, hinter dem sich das Komplexe verbirgt" (Jean-Martin Büttner). "Pop ist heute so ratlos und unverbindlich wie die Bildende Kunst" (Martin Büsser) oder "Pop ist immer das, was kommt" (Tom Holert). Zudem scheint Pop in jedem Jahrzehnt etwas anderes bedeutet zu haben. Diese Ratlosigkeit macht andererseits neugierig darauf, wie sich die Autoren ihrem nebulösen Untersuchungsgegenstand wohl nähern werden.

Aber um eine im strengen Sinne wissenschaftliche Untersuchung geht es hier nicht unbedingt. Die 30 Beiträge sind ursprünglich von Journalisten für eine Sendereihe des Hessischen Rundfunks mit dem Titel "Jugendkultur und Popmusik" verfaßt worden. Die Autoren schreiben und erzählen deshalb mit Saft und Kraft, zeichnen anhand der Musik und der Reaktionen, die sie hervorrief, gesellschaftliche Entwicklungen, Lebensgefühle und Befindlichkeiten nach. Unterhaltsamer kann Soziologie kaum sein. Peter Kemper berichtet zu Beginn, wie die Sache mit dem Pop nach 1945 anfing: Die sogenannten "Teenager" machten zum ersten Male und nach amerikanischem Vorbild Front gegen die Offizialkultur der Elterngeneration, auch und vor allem im Deutschland der Adenauer-Ära. Diese Jugendlichen wurden von der Wirtschaft als neue Konsumentengruppe wahrgenommen, bildeten einen riesigen Absatzmarkt für Cola und Kaugummi, Platten und Filme. Ausgehend von den seinerzeit "revolutionären Liedern" von Conny Froboess und Peter Kraus folgt man der Popgeschichte dann weiter zu Elvis Presley und Bill Haley, den Beatles und den Stones. Parallel zu dieser Chronologie und proportional zum jugendlichen Rebellionseifer steigt auch die Höhe der Sachschäden, die nach entsprechenden Musikereignissen verzeichnet werden ("Triebentfesselung" stammelte verängstigt der Rheinische Merkur anläßlich eines Rock'n Roll- Konzerts in Köln).

Einige Beiträge locken mit kryptischen Titeln und die Rezensentin hat sie schon deswegen aufgeschlagen, weil sie nun doch wissen wollte, wofür Formeln wie "Turn in Tune in Drop out" stehen. Andere Aufsätze preisen "Glitterlook und Bombast der Siebziger", den Deutschrock und die Neue Deutsche Welle, den Punk und schließlich die Neunziger mit MTV und DJ-Kultur. Das Schöne am Pop scheint zu sein, daß es nichts zu kritisieren gibt, weil Musik und Rebellion ganz wunderbare Dinge sind. So zumindest lesen sich die meisten Artikel. Da wird geschwärmt und gefeiert, vielleicht auch die eigene Jugend, bestenfalls vereinzelt gespöttelt.

Die interessantesten, auch die skurrilsten Artikel sind jedoch jene, die sich mit Biotopen der Popkultur befassen. So schreibt Thomas Lau über den Pop im Kinderzimmer, wo zwischen Zahnspangen, Lara Croft und der Kelly Family eine - leider nicht weiter erläuterte - "Theorie der Coolness" entwickelt und hart an den erforderlichen Stilen und Outfits gearbeitet würde. Ein Glanzpunkt des Buches ist in jedem Fall der Aufsatz über die Entwicklung der Rockmusik in der DDR. Man stelle sich vor: während der West-Teenie auf Beatleskonzerten tobte, demonstrierten in Leipzig 2500 Jugendliche für das "Recht auf Gitarrenmusik" und forderte Ulbricht ein "yeah, yeah, yeah"-Verbot.

Am Ende steht das große Finale, die Diskussion aller Beiträger über die Zukunft des Pop an der Jahrtausendwende: Also was wird aus dem Pop? "Obwohl alles Pop ist, ist am Ende nur wenig Pop", äußert weise VIVA-Chef Dieter Gorny. Man ist sich einig, daß der Pop seine Sprengkraft verloren hat, vor allem wegen der unvermeidlichen und sofortigen kommerziellen Vereinnahmung jeder neuen Bewegung. Das dürfte noch milde ausgedrückt sein, wenn man inzwischen sogar Wolfgang Clement von höchster Stelle posaunen hört: "Popkultur ist die Kultur des freien Marktes".

Titelbild

Peter Kemper: Alles so schön bunt hier. Hg. von Peter Kemper, Thomas Langhoff und Ulrich Sonnenschein.
Reclam Verlag, Stuttgart 1999.
ca. 350, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3150104564

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