Schreckliche Gastfreundschaft

Jan Weiler über den ganz normalen Wahnsinn in einer deutsch-italienischen Familie

Von Tanja SiegRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tanja Sieg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits mit seinem ersten Roman "Maria, ihm schmeckt's nicht" katapultierte sich Jan Weiler innerhalb kürzester Zeit als bester Debütant der letzten Jahre auf die vorderen Plätze der Bestsellerliste. Sein Zweitwerk "Antonio im Wunderland" knüpft nun lose an diese Geschichten über die italienische Verwandtschaft an und steht dem Debütroman in nichts nach. Wie viel Autobiografisches Weiler, der selbst mit einer Halbitalienerin verheiratet ist, in seinem Roman verwendet, sei dahingestellt. Sicher ist, dass der ehemalige Chefredakteur des "Süddeutsche Zeitung Magazins" treffsicher die Eigenarten des liebevollen Patriarchen Antonio, die so typisch und doch befremdlich erscheinen, dem Leser auf eine unnachahmliche Weise näher bringt. Weiler gelingt es mit seinen Beobachtungen, wunderbare Momente einzufangen.

Humorvoll akzentuiert, mit einem leichten Augenzwinkern und herrlich ironisch unterlegt beschreibt Weiler das Leben des Italieners Antonio Marcipane, eines "Gastarbeiters der ersten Stunde. Jeans, Lederschuhe, Flanellhemd. Goldzähne, dunkelbraune Haare, auf der Brust auch graue." 37 Jahre harte Arbeit im Stahlwerk Krefeld hat Antonio auf dem Buckel. "37 Jahre. Das bedeutet über 16000 mal Spindtüre auf und wieder zu, einmal am Morgen und einmal am Abend. Das sind mehr als 8000 Butterbrote, die ihm [seine Frau] Ursula geschmiert hat, Hunderte von Kollegen, die er kommen und wieder gehen sah. 96000 Kilometer Fahrtweg zur Arbeit und zurück."

Was hat Antonio, der als junger Mann aus einer kleinen süditalienischen Stadt mit nichts in den Händen nach Deutschland kam, in diesen Jahren nicht alles aufgebaut. Mit Ursula -"eine stille, freundliche Frau" - hat er zwei wunderbare Töchter, Sara und Lorella, die beide mit deutschen Ehemännern verheiratet sind - und darauf ist Antonio wirklich stolz. Und das Reiheneckhaus aus rot-braunen Klinkersteinen ist in wenigen Monaten abbezahlt.

Selbstverständlich verbringt Antonios Familie die Sommerurlaube gemeinsam bei der Verwandtschaft in Italien. Aber "diese Ferien sind eine zweischneidige Sache. Einerseits sind sie immer sehr schön, andererseits gibt es keine Alternative dazu. Wenn man nämlich in eine italienische Familie einheiratet, steht fest, wo man in den kommenden fünfzig Jahren den Urlaub verbringt." Entsprechend wird in Antonios Geburtstadt Campobasso ganz nach süditalienischer Art gegessen, getrunken, gefeiert und der Besuch aus Deutschland fröhlich bei sämtlichen Angehörigen herumgereicht. Für Antonios Schwiegersohn, "de liebe Jung", eigentlich eine willkommene Abwechslung, wenn er nur diesen alltäglichen Familienwahnsinn nicht hautnah, sondern mit genügend Abstand verfolgen könnte. So fällt es ihm beispielsweise schwer, emotional unbelastet in die Ferien nach Italien zu fahren, was paradoxerweise mit der unendlichen Gastfreundschaft zu tun hat. Denn es warten immer das furchtbar schmeckende Bier-Surrogat der Marke Peroni im Kühlschrank und ein vermeintlich frischer Panettone auf ihn. Nur wenige Dinge auf der Welt sind "spuckeresistenter als so ein Staubhaufen mit Zitronat."

Besonders Antonio, der immer nur das Beste will, aber das Gegenteil davon erreicht, kann ziemlich anstrengend sein. Seinen beiden Töchtern ist er besonders peinlich, denn er "übertreibt, er schmückt aus, er fabuliert. Und alle, die es besser wissen, schütteln den Kopf oder lachen über ihn. Er denkt dann, sie lachen mit ihm."

Bevor Antonio sein Rentnerdasein in vollen Zügen genießen kann, will er sich noch einen langgehegten Wunsch erfüllen: Eine Reise nach Amerika - und sein Schwiegersohn muss ihn auf jeden Fall begleiten. Bereits bei der Zollkontrolle am Flughafen in New York bereut der Schwiegersohn seinen Entschluss mitgefahren zu sein, denn Antonio wird vorläufig verhaftet. Er hat sämtliche Fragen auf dem Einreiseformular mit "Ja" beantwortet. Fragen wie: "Leiden Sie an einer ansteckenden Krankheit? Betreiben Sie Missbrauch mit Drogen? Waren oder sind Sie in Spionage-, Sabotage- oder terroristische Aktivitäten verwickelt? Sind Sie jemals aus den USA abgeschoben worden?" Dabei wollte Antonio nur höflich sein.

Dieser Vorfall steht erst am Anfang einer Reise, bei der weitere unvorstellbare Ereignisse und bizarre Überraschungen nicht lange auf sich warten lassen: Eine tätliche Auseinandersetzung mit einem originalen New York Cop, ein Grillfest in einem winzigen Gärtlein in Queens, ein Abendessen mit Robert de Niro, ein versteinerter Paläontologe des Museum of Natural History und ein zahnloser Stegosaurus... Am Ende des Ausflugs ins "Wunderland" merkt der Schwiegersohn nicht ganz ohne Sarkasmus und Resignation an: "Ich habe Dinge gesehen, die kein Tourist sonst jemals zu Gesicht bekommt."

Wen der übermäßige Gebrauch von Fußnoten, für die der Autor, wie er im Vorwort erwähnt, auch noch bezahlt hat, nicht weiter stört, kann sich auf eine heiter-humorvolle, aber auch nachdenklich stimmende Lektüre freuen.

Titelbild

Jan Weiler: Antonio im Wunderland. Roman.
Kindler Verlag, Berlin 2005.
267 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3463404842

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