Autogenozid frauenfeindlicher Völkerschaften

Ein feministischer Sci-Fi-Roman aus arabischer Männerhand?

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Feministische Science Fiction Romane gehören seit einigen Jahrzehnten nicht nur zum besten, was das einstmals dezidiert 'männliche' Genre zu bieten hat, sondern sind inzwischen auch keine Seltenheit mehr. Feministische Sci-Fi von Männern hingegen muss man nach wie vor mit der Lupe suchen. Und von einem Araber dürfte es wohl überhaupt nur einen einzigen geben. Ein Libanese christlichen Glaubens namens Amin Maalouf hat dieses Unikat bereits im Jahre 1992 geschrieben und unter dem Titel "Le premier siècle après Béatrice" auf den französischen Markt gebracht. Nur ein Jahr später lag "Das erste Jahrhundert nach Béatrice" auf Deutsch vor. Nun hat der Suhrkamp Verlag den Band als Taschenbuch-Ausgabe neu aufgelegt.

Der Roman, der vom Ich-Erzähler als eine "Art Memoiren" ausgegeben wird, beginnt im Stil von Authentizitätsversicherungen, wie sie in vergangenen Jahrhunderten gerne benutzt wurden und zu deren Beglaubigungsverfahren gehört vorzugeben, die geschilderten Ereignisse als Zeuge miterlebt zu haben. Im vorliegenden Fall versichert der Ich-Erzähler gar, sie "aus größerer Nähe" als "die Masse der Zuschauer" erlebt zuhaben. Er verspricht sie "so wahrheitsgetreu und gewissenhaft wie möglich" zu erzählen und zwar "einzig und allein" aus dem "Blickwinkel" eines "Zeitzeuge[n]". Ganz im Stil der Altvorderen der europäischen Literaten wendet sich der Erzähler auch schon mal direkt an den "geneigte[n] Leser", wenn er ihm von den "wackeren Insekten" berichtet, welche die Objekte seines wissenschaftlichen Interesses sind. Doch sind solche stilistischen Reminiszenzen nicht mehr als anfängliche Einsprengsel, die sich im weiteren Verlauf des Romans verlieren. Den gesamten Text hingegen durchzieht eine doch recht holzschnittartige Zeit- und Kulturkritik inklusive Medienschelte. Gelegentlich läuft der Autor allerdings auch zu aphoristischer Form auf. Dann lässt er seinen Ich-Erzähler etwa erklären, er sei "seit jeher der Meinung, die Probleme seien vom Himmel erfunden worden und die Lösungen von der Hölle". Als Beispiel dient ihm die "Endlösung".

Andererseits bleibt der Ich-Erzähler nicht immer frei von kitschigen Anwandlungen. Dies gilt insbesondere für die seitenlange Rede eines der führenden Mitglieder des "Netzwerk[s] der Weisen" namens Emmanuel Liev auf der "Weltbevölkerungskonferenz" im New Yorker UN-Gebäude vor "Hunderten von Königen, Präsidenten, Ministern und anderen Exzellenzen", die samt und sonders "fast andächtig lauschen". Offenbar nutzt der Autor diese Gelegenheit, dem Lesepublikum seine eigene Weltsicht und Heilslehre mitzuteilen. Nicht weniger kitschig gerät die Schilderung einer rührseligen Umarmungsszene zwischen der vierzehnjährigen Tochter und dem Protagonisten, der zu diesem Zeitpunkt fünfzigjährig sein will, was allerdings wenig glaubhaft ist. Hat er doch zuvor bekundet, dass er schon einundvierzig Jahre alt gewesen sei, als er mit seiner Frau Clarence darüber nachzudenken begann, ob sie vielleicht eine Tochter - Béatrice eben - zeugen sollten.

Der Erzählzeitraum des Romans spannt sich über das schon im Titel benannte "erste Jahrhundert nach Béatrice", genauer gesagt eigentlich nur über die Jahrzehnte zwischen 1995 und 2030, in denen sich ein "bisher nie dagewesene[r] Rückschritt in der Menschheitsentwicklung" vollzieht. Die fiktive Niederschrift des Textes fällt etwa in das Jahr 2040.

Der Plot des Romans basiert, wie so oft bei Sci-Fi-Romanen, auf einer einzigen Idee, hier einem Gedankenspiel: Was wäre, wenn alle väterlichen Wünsche nach ausschließlich männlicher Nachkommenschaft erfüllt würden. Ein skrupelloser Wissenschaftler namens Foulbot ermöglicht die Erfüllung dieses Wunsches, indem er ein Männern zu verabreichendes Mittel entdeckt, welches garantiert, dass sie künftig nur noch männlichen Nachwuchs zeugen. Verpackt in so genannte, schon aus der pharaonischen Zeit bekannte "Skarabäusbohnen" mit der Aufschrift "Möge dein Name fortdauern und dir ein Sohn geboren werden" wird die "revolutionäre Substanz" unter "alte[m] Etikett" in den Ländern südlich des Mittelmeeres ebenso wie auch in der gesamten südlichen Hemisphäre feilgeboten. Zunächst noch halblegal, bald aber unter dem Beifall auch von westlichen Wissenschaftlern und Politikern, die das Mittel mit nur schlecht verhohlenem Rassismus nun als Möglichkeit preisen, die Überbevölkerung in den afrikanischen und asiatischen Staaten in Schach halten zu können. Weiße Rassisten und farbige Sexisten setzen also mit den Skarabäusbohnen "modernsten Mittel" zu den "überholtesten Zwecken" ein, wie der Ich-Erzähler einmal konstatiert.

Im Laufe weniger Jahrzehnte kommt es in sämtlichen vom Männlichkeitswahn befallenen Ländern zu einem eklatanten Männerüberschuss, der vor der Hand nicht auszugleichen ist, da die Wirkung des Mittels auch anhält, nachdem es abgesetzt worden ist, und es den "Zauberlehrlingen" nicht gelingt, ein Gegenmittel zu finden. So zeichnet sich langsam aber sicher ein "Autogenozid frauenfeindlicher Völkerschaften" ab. Im Norden wie im Süden reagiert man auf die Katastrophe in tradierter Weise: Im Süden "macht man immer öfter als Hauptverantwortlichen, als Ursprung allen Übels die frühere Kolonialmacht aus oder schlicht den Westen", während man im Norden nur daran denkt, sich selbst zu retten.

Das Leben, das die wenigen Frauen in den südlichen Ländern fristen, wird immer unerträglicher. Weit davon entfernt, dass sie wegen ihres "zunehmenden Seltenheitswerts" nun "vergöttert" und "umschwärmt" würden, sind sie "lediglich vermehrter Begierde ausgesetzt". Sie dürfen das Haus nicht mehr verlassen um Vergewaltigung und Entführung vorzubeugen, sind "Gegenstand blutiger Auseinandersetzungen" und gelten als das "wertvollste Eigentum ihrer Stämme". Schließlich kommt es soweit, dass man sich auch in Europa nur noch männlichen Nachwuchs wünscht, da man in stetiger Sorge um Mädchen ist, die auch hier stets bewacht werden müssen, um ihre ständig drohende Entführung durch Mädchenhändler zu verhindern.

Mit dem Ich-Erzähler hat der Autor eine durchaus usympathische Figur entworfen, in der sich - ungeachtet ihres Wunsches nach einer Tochter - die Misogynie der Männer spiegelt, die nach der "Substanz" greifen um sicherzustellen, dass ihre Frauen ihnen Söhne gebären. Schon seine erste Begegnung mit einer Frau lässt dies deutlich werden. Eine junge Journalistin sucht ihn an seinem Arbeitsplatz in der Universität auf, um ein Interview mit dem Wissenschaftler zu führen. Es handelt sich um Clarence, die später seine Lebensgefährtin wird. Während er sie sogleich mit dezidiert männlichem Blick taxiert, stößt er sich wenige Augenblicke danach schon daran, dass sie ihren Blick über die Einrichtungsgegenstände seines Büros schweifen lässt: "Ich war es nicht gewohnt, auf solche Weise gemustert zu werden, und hatte das äußerst unangenehme Gefühl, auf der falschen Seite des Mikroskops zu sein." Selig ist er erst, als sie ihn im Laufe des Interviews so anschaut, "wie jeder Mann von Frauen angeblickt werden möchte", nämlich mit Augen voller "schimmernder Hochachtung".

Clarence wird in dieser Szene als denkbar naive, junge Frau dargestellt, die sich dem Wissenschaftler "wie [s]eine schüchternsten Studentinnen mit zusammengepressten Knien gegenüber [setzt]". Später wird sie als selbstbewusste und selbstständige Frau geschildert, die zu frauenrechtlichen Themen arbeitet. Wie sie angesichts dessen zu dem Interview mit dem "Käferspezialisten" gekommen ist, bleibt ebenso dunkel wie ihre Entwicklung von der unsicheren Jung- zur professionellen Erfolgsjournalistin, die stets unterwegs ist und von einem Erdteil zum anderen jettet.

Die beruflichen Ambitionen und der Erfolg von Clarence werden vom Autor allerdings grausam bestraft, sodass einem doch einige Zweifel kommen, ob man tatsächlich einen feministischen Roman in den Händen hält: Auf einer Recherche in Afrika wird Clarence von einer marodierenden Bande überfallen und schwer verletzt. Nachdem sie längere Zeit im Koma gelegen hat, bleibt sie für den Rest des Romans an den Rollstuhl gefesselt und kann an den Arm des Ich-Erzählers "geklammert" gerade mal "ihren Morgenspaziergang von einem Wohnzimmerende zum anderen" bewältigen.

Die Darstellung der Beziehung zwischen beiden erhebt in keiner Zeile den Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Schon daran, dass eine engere Verbindung zwischen ihnen überhaupt zustande kommen konnte, darf man berechtigte Zweifel hegen. Clarences dürre Erklärung, sie habe sich für den Ich-Erzähler entschieden, weil er "in einer ganz anderen Welt" lebe, ist da kaum hinreichend.

Vermutlich darf man allerdings auch nicht blindlings darauf vertrauen, dass die Wahrnehmung des Ich-Erzählers immer ganz realitätsgerecht bleibt, sobald es um seine Beziehung zu Clarence geht. So behauptet er, beide hätten nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Béatrice ein "Paar" gebildet, "bei dem der Vater sich durch sein Kind verwirklicht und die Mutter durch ihre Arbeit und ihren Ruhm", versichert aber zugleich, dass sie "ihren Mutterpflichten gewissenhaft nach[kam]". So habe er sich denn auch nie über ihr berufliches Engagement beklagt und "nie versucht, sie länger als nötig an die Wiege zu binden". Wenig glaubwürdig ist auch die überaus ideale und vertrauensvolle Beziehung, die er zu seiner Tochter haben will. Das Mutter/Tochter-Verhältnis hingegen beschreibt er als "kühl und steif". Dies habe sich erst mit Clarences Behinderung geändert, mit der sie das Haus nicht mehr verlassen kann und nun offenbar endlich so ist, wie er sie sich immer gewünscht hat, nämlich hilflos und von "kindliche[r] Liebesbedürftigkeit". Beide, Tochter und Gattin, nennt er nun "Mädels" und ist "entzückt, die beiden ohne Rücksicht auf den Altersunterschied unter die Fittiche ein und desselben Wortes nehmen zu können".

Zweifellos lässt sich so manches an dem Roman monieren. Eines aber ist sicher: Sollte die "Substanz" wirklich erfunden werden, wird die von Maalouf geschilderte Entwicklung nicht lange auf sich warten lassen.

Titelbild

Amin Maalouf: Das erste Jahrhundert nach Beatrice.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
211 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-10: 3518456199

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