Pfaffe, Killer, Bibliomane!

Detlef Opitz rollt in seinem Roman "Der Büchermörder" den berühmten Kriminalfall Johann Georg Tinius neu auf

Von Marcel AtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Atze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Fall Tinius war so: Johann Georg Tinius, Sohn eines Schäfers in der Niederlausitz, wurde nach erfolgreichem Besuch des Gymnasiums und der Universität Lehrer, dann Pfarrer. Er war von einem ungeheueren Wissensdrang besessen und häufte Buch auf Buch. Das geringe Gehalt konnte die Ausgaben für seine Leidenschaft nicht decken. Er wurde zum zweifachen Raubmörder, um sich Geld für seine Bücher zu verschaffen. Am 31. März 1814 wurde er in der Nicolaikirche zu Leipzig feierlich seines Amtes entkleidet und den weltlichen Gerichtsbehörden übergeben. Nach fast zehnjähriger Untersuchungshaft wurde er im Jahre 1823 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Er starb, ohne ein Geständnis abgelegt zu haben, im September 1846."

So äußerte sich der Bibliophile Rudolf Adolph in seinem Standardwerk "Liebhabereien mit Büchern" über einen Mann, dessen Name noch heute synonym steht für eine Krankheit, die Bücherwahnsinn heißen könnte, die in gelehrten Kreisen jedoch als Bibliomanie bezeichnet wird. Nicht umsonst berichtet Adolph über diese pathologische Erscheinung unter der bezeichnenden Überschrift "Entartungen des Liebeslebens mit Büchern". Seit jeher beschäftigt die Causa um den "Magister Tinius", wie er für gewöhnlich genannt wird, auch die Fantasie der Schriftsteller. Noch am bekanntesten dürfte das gleichnamige Drama des heute fast völlig vergessenen Autors Paul Gurk sein, das im Januar 1937 unter Regisseur Heinz Hilpert, einst Schüler von Max Reinhardt, am Deutschen Theater in Berlin mit großem Erfolg zur Uraufführung gelangte.

Mit dem Tinius-Stoff beschäftigt sich seit mehr als einem Jahrzehnt auch der Berliner Autor Detlef Opitz, der einräumt, selbst jemand zu sein, der mehr oder weniger heftig von der Büchernarretei befallen ist. Kenner dürften es bedauert haben, dass man seit seinem vergnüglichen Lutherbuch "Klio, ein Wirbel um L." (1996) recht wenig von ihm gehört hat.

Nun legt Opitz den Roman "Der Büchermörder" vor, der das Ergebnis seiner intensiven Auseinandersetzung präsentiert. Darin werden auch seine spannenden Nachforschungen und Rekonstruktionen mit ihren "verknäulten Irrwegen" zum Thema. So informieren locker eingestreute Kapitel den Leser darüber, wie "braves Recherchistenblut" in Wallung gebracht werden kann, und ohne viele Hemmungen dürfen wir den Erzähler in diesen Teilen des Romans mit dem Autor gleichsetzen. Man erfährt beispielsweise, dass Opitz auf den Namen Tinius wohl erstmals bei keinem anderen als Johann Wolfgang Goethe gestoßen ist, der sich offenbar anlässlich der Versteigerung von dessen Bibliothek im Jahre 1821 nach den Preisen von einigen Büchern erkundigt hat. Vor allem verteufelt Detlef Opitz seine Vorgänger wie Eduard Hitzig (dem sonst beachtlichen Biografen von E. T. A. Hoffmann) und Willibald Alexis (wie jener Hoffmann ein schreibender Jurist, nicht jedoch auf dessen Niveau), die mit ihren uninspirierten und einseitigen Lebensbeschreibungen zu den "Urhebern" eines falschen Tinius-Bildes zählten.

Mit großer Hochachtung aber würdigt er die Pioniere der Forschung, die vor ihm beachtliche Funde zutage gefördert haben, ohne die Opitz selbst auf verlorenem Posten gestanden hätte. Wie etwa einen rührigen Hobbyhistoriker aus Bochum, der sich auch durch die Schikanen der Behörden nicht von Fahrten in die DDR abschrecken ließ, um den Spuren des Magisters an den Originalschauplätzen zu folgen. Ungleich wichtiger ist freilich die absolut reale Figur des Verlegers und Schriftstellers Hans Kasten, der beinahe sein ganzes Leben lang ein Buch über Tinius plante, sich aber nicht entscheiden konnte, ob er ein Sachbuch oder einen Roman fabrizieren wolle, schließlich beides nicht zustandebrachte, sondern nur einen schmalen Aufsatz mit dem Titel "Prolegomena zur Lebensgeschichte eines Bibliomanen" zum Druck beförderte, der 1932 in einem entlegenen Periodikum erschien. Ehrerbietig nennt der Erzähler den seelenverwandten Kasten "die Koryphäe in Sachen Tinius".

Zu dieser konnte er allerdings erst werden, nachdem ihm der Leipziger Jungantiquar und nachmaliger SS-Obersturmführer Ernst Otto Carlsohn, den Kasten beauftragt hatte, ihm alles Gedruckte und Geschriebene über Tinius zu besorgen, im Jahr 1930 ein 450 Blatt zählendes Konvolut verkaufte. Es handelte sich um die Akten zum Mordfall an der Briefträgerwitwe Christiane Sophie Kuhnhardt, die Tinius am 8. Februar 1813 in ihrem Haus erschlagen und ausgeraubt haben soll. Naturgemäß interessiert sich der Erzähler für diese Papiere, doch wo befindet sich bloß der Nachlass des Hans Kasten? Der Held zieht aus, und seine Fahndung gemahnt an des Ritters Suche nach dem Heiligen Gral. Doch im Gegensatz zu Parzival wird Opitzens Detektiv aller Rückschläge zum Trotz fündig, dem Internet - das in den Zeiten der Gralssuche bekanntlich noch nicht zur Verfügung stand - sei Dank.

Ein williger Bibliothekar der New York Public Library spürt das Erbe Kastens unter den Schätzen der bekannten Houghton Library in Cambridge, Massachusetts, auf. Für teures Geld wird der Bestand verfilmt, und das Material gibt dem Autor jene Möglichkeit, mit der schon Hans Kasten geliebäugelt hatte: Ein Buch, vielleicht das Buch über den Magister Tinius zu schreiben. Im Gegensatz zum bewunderten Kasten hat Opitz aber einen Entschluss gefasst: für den Roman. Und für ein gekonntes Sprachspiel, das ein großes Lesevergnügen bereitet.

Zurück also zum Anfang. "Der Fall Tinius war so", hatte Rudolf Adolph geschrieben - und lag falsch. Doch wie sah der Fall Tinius wirklich aus? Detlef Opitz nimmt sich der Frage nach beinahe 200 Jahren erneut an. Alles beginnt damit, dass die bereits erwähnte Witwe Kuhnhardt von ihrer Magd noch lebend, jedoch tödlich verletzt in ihrem Blute aufgefunden wird: Das Loch im schwer lädierten Schädel rührt von einem Hammer her. Der Ermittler, Benjamin Weidlich, eine Art sächsischer Columbo, der im frühen 19. Jahrhundert agiert, ist zunächst mit der klassischen Krimifrage konfrontiert: Whodunit?

Doch die junge Frau glaubt den Mörder ihrer Herrin erkannt zu haben. Der auf recht windigen Indizien basierende Verdacht trifft von Beginn an den Magister Tinius. Opitz zeigt, dass es noch einige andere Verdächtige gegeben hat, und er stellt die divergierenden Aussagen der wenig verlässlich scheinenden Zeugen gegenüber. Allerlei Mordmotive werden diskutiert, Verhöre wiedergegeben, (womöglich authentische) Protokolle im Duktus der Zeit dokumentiert, verdächtig machende Kleidung be- und zahllose Kassiber geschrieben. Nichts hilft, obwohl der Delinquent die Tat von Beginn an leugnet, wird er in Untersuchungshaft genommen. Im Roman sagt Tinius: "Man siehet alle Dinge so an, daß sie nur gut ins schlechte Muster passen." Friedrich Hebbel notierte am 21. August 1847 in diesem Sinne: "Indem ich im Neuen Pittaval die Gräuel vom Magister lese, drängt sich mir eine Betrachtung auf. Wie viel hängt bei solchen Processen von Zeugen-Aussagen ab, und bei den Zeugen-Aussagen wie viel von genauer Ermittlung solcher Dinge, über die vielleicht kein Mensch in Wahrheit etwas Bestimmtes anzugeben vermag. Wenn ich z. B. über eine einzige der vielen Personen, mit denen ich auf meiner letzten Reise zusammen kam, ja über einen meiner intimsten Freunde angeben sollte, zu welcher Zeit an einem gewissen Tage ich ihn gesehen habe, wie er gekleidet gewesen sey u.s.w., ich würde unfähig seyn, es zu thun. Gott, Gott, auf welchem Fundament ruht die menschliche Gerechtigkeitspflege!" Nach kurzem Innehalten fügt Hebbel an: "Ein angesehener Mann! Wie sinnlich ist dieß Wort gebildet. Ein Mann, der viel angesehen wird."

Um einen solchen handelte es sich bei Tinius durchaus. Im Jahr 1800 war er, der Theologie an der berühmten Universität Wittenberg studiert hatte und Pastor zu Heinrichs geworden war, als Geistlicher für die Kreuzkirche in Suhl im Gespräch, doch er zieht den Argwohn vieler Neider auf sich, weil er ein beliebter und ausgezeichneter Prediger ist: "Die Kanzel liegt ihm, er besitzt Geschick", heißt es bei Opitz. "Seine Predigten sind anders als die der anderen Pfarrer. Die Worte verblüffen, sind schärfer und frech und haben mehr Klang und mehr Blut und mehr Fülle, sie verwalten nicht nur den Himmel. Die Gedanken laufen hierhin, dorthin frei herum, spielen, fassen zu, piesacken, wenn es einmal nötig erscheint, sie kommen ganz irden daher, der Himmel ist ihr Ziel, nicht ihr Ausgangspunkt, nicht ihr warmes Plätzchen; auch kein postscholastischer Zufluchtsort."

Zu allem Überfluss wird Tinius bald mit einer Jahre zurückliegenden Tat in Verbindung gebracht, die nach ähnlichem Muster abgelaufen war: Ein Leipziger Kaufmann, der ebenfalls seinen schweren Kopfverletzungen erlag, war ausgeraubt worden. Habgier und Hinterlist werden dem "Inhaftaten" unterstellt, weil seine immens große Büchersammlung, die Opitz auf mindestens 30.000, möglicherweise bis zu 60.000 Bände schätzt, enorme Summen verschlingt. Bei der ersten Ortsbegehung sind die Beamten überrascht: "Allein die Bibliothek des Magisters erstreckte sich über fünf Gemächer - über das ganze Obergeschoß. (Und noch in der Scheune lagerten behelfsweise ganze Posten, ganze Stapel an Büchern.)"

Von diesen Papierbergen träumt es dem Häftling oft, in seiner Verzweiflung erteilt er "Befehle zur Errettung der Bibliothek, um die er auch manchmal weinete und schluchzete und so laut aufschrie, daß es den ganzen Landhof durchdrang". Schließlich appelliert Tinius an die Obrigkeit, seine Sammlung zu erhalten: "Um Gnade bat er nur für die unschuldigen Bücher. Man möge sie nicht in die Welt zerstreuen, man möge mit Schonung gegen sie verfahren, denn der Mensch ist vergänglich, die Bücher aber bleiben und verdienen Schutz vor allen Gefahren, denen sie ausgesetzt sind alle Zeit. Sie sollen die Generationen überdauern und neuen Geschlechtern noch Labsal spenden."

Das liest sich eindrücklich, zumal vor dem Hintergrund des Bibliotheksbrands von Weimar, der sich in diesen Tagen gejährt hat. Doch der Wunsch erfüllt sich nicht. Schon vor der Auktion, an der auch Goethe Lose für die Universitätsbibliothek Jena ersteigerte, waren etwa zwei Drittel des Bestands verschwunden. Trotzdem zeigen auch - so Opitz - die übrigen 16.000 Bände, dass es sich um keine wahllos zusammengetragene "schartekesche Anhäufung" gehandelt habe, wie einige Kritiker meinten, sondern dass sich unter ihnen vielmehr wahre Schätze an wertvollen Erstausgaben, Nachschlagewerken und Bibeln befunden haben.

Vor Gericht hatte Tinius dann denkbar schlechte Karten, selbst der eigene "Defensor" glaubte nicht an die Unschuld seines Mandanten und haute ihn buchstäblich in die Pfanne. Der Erzähler springt gleichsam durch die Zeiten als Pflichtverteidiger ein und stellt manch unbequeme Frage, etwa nach versäumten Einvernahmen bestimmter Zeugen. Opitz zählt zahlreiche Indizien auf, die sogar für die Unschuld des so schwer Beschuldigten sprechen. Immerhin wurde Tinius in nur einem Falle des Mordes für schuldig befunden. Der Vorwurf, auch den Kaufmann überfallen zu haben, wurde nicht aufrecht erhalten. Trotzdem verschwand Tinius für weitere 12 Jahre im Gefängnis zu Zeitz.

Detlef Opitz erzählt in dem Text "Schicksale, Scheusale, Labsale - Bücher" (er findet sich in dem Marbacher Magazin "Aus der Hand oder Was mit den Büchern geschieht" von 1999) davon, dass er einmal seine eigene Bibliothek als letztes Pfand bei einer Pokerpartie einsetzte - und verlor. Ob er deshalb selbst schon von Mordgedanken angesichts seiner Neigung als Bibliomane heimgesucht wurde, ist freilich nicht überliefert.

Titelbild

Detlef Opitz: Der Büchermörder. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
354 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3821857633

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