Nach Austerlitz jetzt Korsika

Charles Brauer liest "Campo Santo" von W. G. Sebald

Von Wolfgang HaanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Haan

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

W. G. Sebald wird zu den bedeutendsten deutschsprachigen Literaten des 20. Jahrhunderts gezählt. Allerdings sind nicht alle seine Arbeiten unumstritten. Mit einigen seiner Essays und ganz speziell seiner Vortragsreihe über "Luftkrieg und Literatur" löste der seit mehr als 30 Jahren in Großbritannien lebende und lehrende Germanistik-Professor kontroverse Diskussionen aus.

Als Meisterwerke des bei einem Auto-Unfall im Jahre 2001 tödlich verunglückten Autors gelten "Austerlitz" und "Die Ringe des Saturn". Ganz in der Tradition des letztgenannten Werks steht das bereits vor zwei Jahren posthum und jetzt endlich in Teilen auch als Hörbuch veröffentlichte Nachlassbändchen "Campo Santo" (Friedhof). Im Unterschied zur gedruckten Ausgabe sind die Essays nicht enthalten. Dieses Manko ist jedoch leicht zu verschmerzen, eröffnet doch die Doppel-CD eine hervorragende Einstiegsmöglichkeit in das erzählerische Werk, ohne gleich an literaturwissenschaftlichen Diskursen weniger interessierte Leser abzuschrecken. Außerdem wird hier, fast wie nebenbei, dem mobilen Einsatz des Mediums Hörbuch exzellent Rechnung getragen. Es ist erfahrungsgemäß viel schwerer, sich während einer Auto- oder Zugfahrt auf einen wissenschaftlichen, evtl. von Fremdwörtern durchsetzten Text zu konzentrieren als auf Prosa. Schließlich bleibt zu hoffen, dass durch die Auswahl der vier Texte über Korsika Lesergruppen angesprochen werden, denen W. G. Sebalds Werk bisher nicht bekannt war.

Reisebeschreibungen großer Schriftsteller haben in der Weltliteratur eine lange Tradition. Als Beispiele seien hier nur Goethes "Reise durch Italien", Fontanes "Wanderungen durch die Mark Brandenburg", Heines "Harzreise", Flauberts "Reise in den Orient" und natürlich Alexander von Humboldts "Kosmos" genannt.

"Campo Santo", das namengebende Fragment, erzählt davon, dass der Erzähler einen korsischen Friedhof besucht, diesen zunächst oberflächlich in Pauschaltouristenmanier betrachtet und ihn dann sogleich, typisch deutsch, mit einem heimatlichen, ordentlich gepflegten, institutionalisierten Friedhof vergleicht und abwertet. Bei näherem Hinsehen entdeckt der Sebald genannte Erzähler jedoch die in dem Verfall bzw. der Verwahrlosung versteckte Schönheit des Friedhofs und beginnt, mittels zufällig scheinender Assoziationen, Einzelheiten in einen Zusammenhang zu bringen, die dem flüchtigen Betrachter verwehrt bleiben. Von diesen Betrachtungen ausgehend sinniert er über korsische Bestattungsriten, der Vergänglichkeit des Lebens und "des Lebens als Toter bzw. Geist". Die Thematik des Verfalls zieht sich durch alle Beschreibungen wie ein roter Faden. Aber auch unerklärliche, fast parapsychologische Geschehnisse oder Erscheinungen fließen in die Erzählungen ein. So muss er sich, zu Beginn dieses Fragments, nachdem er bei einem Bad im Meer sehr weit nach draußen geschwommen ist, zwingen, sich nicht bis in die Unendlichkeit schweben und treiben zu lassen. Er kämpft sich, und dies ist wörtlich zu nehmen, ans Ufer zurück und hat dabei das Gefühl, "als schwämme er beständig bergauf". Dabei erscheint ihm das rettende Ufer als "fremder Kontinent", ja sogar als bedrohliche Manifestation "einer unüberwindlich gewordenen inneren Schwäche". Auch der folgende Aufstieg vom Strand zum Dorf bereitet ihm körperliche Beschwerden. Erst nach eineinhalb Stunden ist der Weg geschafft und während des langsamen Wanderns auf den Serpentinen fühlt sich der Erzähler, als wäre er "wie eine Eidechse erstarrt vor Angst". Erst als er das Dorf erreicht, fühlt er sich befreit wie jemand, der "die Kunst der Levitation beherrscht".

In "Kleine Exkursion Ajaccio" wünscht sich Sebald, "bis an mein Lebensende mit nichts [anderem] beschäftigt [zu sein], als dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit". Auch hier spielt die Thematik des Seins, des Vergehens und der Wirkung des Vergangenen auf die Gegenwart eine Rolle. So begegnet er anlässlich eines Museumbesuchs zwei dort arbeitenden Frauen, die eine frappierende Ähnlichkeit mit den Charakteristika des napoleonischen Konterfeis aufweisen. Dies führt bei Ihm zu einer solchen Konfusion, dass er erst einmal nicht in der Lage ist, irgendetwas von den Ausstellungsstücken wahrzunehmen. Erst vor einem riesigen, mit Blattgold verzierten Rahmen, der einen Stammbaum der Familie Bonaparte darstellt, findet er in die Gegenwart zurück. Allerdings hält dies nicht lange an, da nun eine der beiden Damen, die bemerkt, dass er diesen Stammbaum mit besonderem Interesse betrachtet, zu ihm tritt und die Geheimnisse des Bilds offenbart. Die verschiedenen Zeit- und Wahrnehmungsebenen werden ständig verwischt, wabern wie Nebelschwaden hoch, bilden eine Melange, trennen sich wieder und lösen sich schließlich auf.

Nach einem ausgedehnten Abendessen in einem Restaurant mit einem atemberaubenden Ausblick beschließt er, seiner "Vorliebe, in fremden Städten ins Kino [zu gehen]" zu frönen; auch dies wieder ein Rückzug aus der Gegenwart in eine andere, diesmal artifizielle Wirklichkeit. Allerdings schreckt Ihn das angebotene Programm ab. Er gibt seinen Plan auf und kehrt zurück in sein Hotelzimmer. Wenige Minuten später scheint die Welt für ein paar Sekunden zu verstummen; dann explodiert ganz in der Nähe eine Bombe. Wieder wurde von Menschenhand etwas gegenwärtig Existierendes zerstört, einer anderen Ebene zugeordnet; ruhig schläft der Erzähler über dem einsetzenden Straßenlärm ein.

Die zweite CD beginnt mit "Besuch in den Alpen". In poetischen, jedoch keinesfalls kitschigen Bildern malt Sebald großartige Landschaftsszenen und berichtet sachlich vom Raubbau des Menschen an den Waldbeständen Korsikas. Auffällig ist jedoch, dass Sebald uns hier mit Quellenangaben, die die Richtigkeit seiner Aussagen festigen sollen, gerade zu überhäuft. Dies steht in strengem Kontrast zum Beginn des Textes, der mit "Es war einmal..." beginnt. Dieser für Märchen klassische Anfangssatz stellt "die absolute Realität" des Textes in Frage. Unbestritten wurden große Teile der Wälder abgeholzt; aber welche Passagen des Textes sind belegbar und was hat der Autor hinzu fabuliert?

Das letzte Stück ist überschrieben mit "La cour de l'ancienne école" und handelt von einer Zeichnung, die zufällig in die Hände des Autors fiel, plötzlich unauffindbar war und dann wieder auf einem völlig unerwarteten Weg auftauchte.

Das Hörbuch wird von Charles Brauer, bekannt durch seine TV-Rolle als "Kommissar Brockmöller" in der Serie "Tatort", gelesen. Seine besondere Fähigkeit, trotz seiner ruhigen Vortragsweise Akzente zu setzen, tritt hier besonders stark zu Tage. Er schafft es ohne weiteres, den Hörer von Beginn an zu fesseln und hilft ihm bei der Erschließung des Textes, in dem er besonders wichtige Passagen in einer ganz speziellen Weise hervorhebt. Dieses Hörbuch ist ein absolutes Must-have für jeden Freund anspruchsvoller deutscher Literatur.

Titelbild

Winfried G. Sebald: Campo Santo. Gelesen von Charles Brauer. 2 CDs.
Hörbuch Hamburg Verlag, Hamburg 2005.
97 Minuten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3899032217

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