Eine Beinahe-Begegnung mit Effi Briest

Karsten Blöckers überraschende Untersuchung zum Vorbild von Christian Buddenbrook

Von Stefanie HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Hartmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nur 16 Seiten umfassen die kleinen Bände der Reihe "Spuren", herausgegeben von der Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg und sind für wenig Geld zu haben. Und dennoch handelt es sich um kleine bibliophile Kostbarkeiten. Etwa DIN A5-formatig und mit einem hauchdünnen durchsichtigen Umschlag zeichnen sie sich durch zahlreiche Dokumente und Fotos, ein angenehmes Schriftbild und großzügiges Layout aus. Gemeinsames Thema: Literaten und literarische Gestalten in Baden-Württemberg. Dabei beschränken sich die Autoren der Reihe keineswegs auf hier geborene Literaten, sondern zeigen, dass fast alles was in der deutschen Literatur Rang und Namen hat, in Baden-Württemberg war oder auf Umwegen seine Inspiration von dort bezog.

So auch in dem vorliegenden Band von Karsten Blöcker, einem studierten Juristen, Lübeck- und Thomas Mann-Kenner und Vorstandsmitglied der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft. Dass er kein Literaturwissenschaftler ist, schadet dem Werk mit dem Titel "Christian Buddenbrook zur Kur in Bad Boll" keineswegs, ganz im Gegenteil wird der Leser nicht mit philologischen Spitzfindigkeiten gequält, sondern darf an den erhellenden Assoziationen und "Fundstücken" Blöckers teilhaben.

Nun war nicht wirklich Christian Buddenbrook, die kränkliche, tragikomische Künstlerexistenz und der Widerpart zum geschäftstüchtigen Bruder Thomas aus Thomas Manns Roman "Die Buddenbrooks" in Baden-Württemberg zur Kur, sondern sein in gewissem Sinne reales Vorbild: Friedrich Wilhelm Leberecht Mann. Es handelt sich um den Onkel von Thomas Mann, bei dem wohl im 18. Lebensjahr eine "Varicocele" diagnostiziert wurde, eine "ausgedehnte Krampfader der Venen, die beide Samenleiter im Hodensack des Mannes begleiten". Ausschweifungen mit Theaterschauspielerinnen dürften nach Ansicht der Zeitgenossen zur Verschlechterung des Gesundheitszustandes beigetragen haben. So begann 1875 Friedrichs Odyssee durch baden-württembergische Heilanstalten.

Erste Station war die Kaltwasseranstalt Marienberg in Boppard am Rhein (kalte Waschungen der Genitalien sollten helfen), Danach folgte ein Aufenthalt im Katharinenhospital in Cannstatt, wo mittels eines Glüheisens die Variococele behandelt wurde - man mag sich das als Leser kaum vorstellen. 1876 gelangte der Patient dann endlich nach Bad Boll, wo Johann Christoph Blumhardt mittels Gebeten und Handauflegen beispielsweise Rainer Maria Rilke heilte und sich dadurch ungewollt den Ruf eines Wunderheilers erwarb. Und wäre Friedrich nicht 14 Jahre zu spät dort gewesen, wäre er auf ein anderes Vorbild eines wichtigen deutschen Romans gestoßen. Elisabeth Baronin von Ardenne, Vorbild von Fontanes "Effi Briest", flüchtete hierher, um nach der Scheidung Trost zu finden und blieb schließlich selbst als Pflegerin arbeitend viele Jahre dort.

Letzte Station des Baden-Württemberg-Aufenthalts war die Heilanstalt Kennenburg bei Esslingen, wo der Arzt Paul Landerer hinter Friedrichs Krankheit den Wunsch "nach Bemitleidet- und sogar Bewundertwerden" vermutete. Im Dezember 1876 wurde der Patient nach Hause entlassen. 1926 verstarb er ohne jemals gesund geworden zu sein.

Es überrascht, dass Thomas Mann gar nicht allzu viel über den Gesundheitszustand des Verwandten gewusst haben soll, zumindest findet sich in seinen akribischen Aufzeichnungen wenig hierzu. Manches mag vielleicht auch unbewusst eingeflossen sein, jedenfalls beschwerte sich Onkel Friedrich bei Erscheinen der "Buddenbrooks", weil er sich wieder zu erkennen glaubte. Schließlich zog er aber auch Vorteil aus der zweifelhaften Berühmtheit: Nach einer bundesweit veröffentlichten Anzeige gegen die vermutete Ähnlichkeit erinnerten sich auch seine alten Stammtischfreunde wieder an ihn und sammelten für den inzwischen Verarmten Geld.

Nach der Lektüre stellt sich eigentlich nur noch eine Frage: Warum spielt der "Zauberberg" nicht in Baden-Württemberg? Genug Heilanstalten samt verschrobener Insassen hätte es auch hier gegeben.

Wen die Abenteuer des Christian-Friedrich Mann-Buddenbrook neugierig gemacht haben, dem sei ein weiterer Band von Karsten Blöcker aus dieser Reihe ans Herz gelegt: "Tony Buddenbrook in Esslingen".


Titelbild

Karsten Blöcker: "Es ist kein Schmerz, es ist ... eine unbestimmte Qual". Christian Buddenbrook zur Kur in Bad Boll, Bad Cannstatt und Esslingen.
Schiller-Nationalmuseum Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar 2005.
16 Seiten, 4,50 EUR.
ISBN-10: 393738409X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch