Aus dem Giftschrank

Über die wechselvolle Beziehung des Katholizismus zu Immanuel Kant

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit hat sich die katholische Kirche mit Kant sehr schwer getan. Über ein Jahrhundert durften sich ihre Gläubigen mit dem Königsberger Philosophen überhaupt nicht befassen. Wer es dennoch tat, musste dies beichten.

Inzwischen hat sich die Einstellung im katholischen Bereich gründlich geändert, abzulesen an positiven Artikeln, die im vergangenen Jahr zu Kants 200. Todestag in katholischen Zeitungen und Zeitschriften, wie etwa in "Stimmen der Zeit", erschienen sind. Die Katholische Akademie Eichstätt veranstaltete im Juni 2004 sogar ein dreitägiges Symposium über "Kant und den Katholizismus", dessen Tagungsprotokoll, erweitert um mehrere Beiträge und gründliche Anmerkungen, jetzt vorliegt und mit seinen oft sehr pointierten Aufsätzen eine überaus anregende Lektüre bietet.

Offensichtlich ist nunmehr der Zeitpunkt gekommen, die wechselvolle Geschichte, die sich zwischen Kant und dem Katholizismus zugetragen hat, nüchtern zu betrachten und sich über die Bedeutung von Kants Philosophie für den religiösen Glauben Gedanken zu machen.

Überraschend für viele Leser ist sicherlich die Kunde, dass Kant zu seinen Lebzeiten von katholischen Kirchenfürsten geschätzt wurde und dass sich katholische Frühkantianer wie der Würzburger Benediktiner Matern Reuß (1751-1798) und der katholische Pfarrer Sebastian Mutschelle (1749-1800) noch ungehindert und ohne allgemeine kirchliche Aburteilung auf seine kritische Philosophie einlassen konnten. Im Grunde war ihre Begeisterung für den Philosophen nicht weiter verwunderlich, ließ sich doch mit seiner Hilfe gegen die auch der Kirche verhassten Deterministen, Fatalisten, Materialisten und Atheisten gut argumentieren.

Doch allmählich wurde Kant, als sich die Neuscholastik im kirchlichen Raum immer stärker durchsetzte, zum Hauptfeind des katholischen Lehrsystems. Schließlich wurde seine Lehre als Erbsünde der Neuzeit gebrandmarkt und scharf zurückgewiesen. Was manche katholische Kant-Kritiker, wie Michael Glossner (1837-1909) und Benedikt Stattler (1728-1797), besonders erboste, war, dass Kant die Möglichkeit dogmatischer Metaphysik bestritt und von spekulativen Beweisen für das Dasein Gottes nichts wissen wollte.

Auf die anfänglich positive Kantrezeption folgte eine Phase der Ablehnung und Anfeindung. Vor allem das Verbot von Kants "Kritik der reinen Vernunft", die mit Dekret vom 11. Juni 1827 auf den Index librorum prohibitorum gelangt war, beförderte die dumpfe Ablehnung Kants im Katholizismus und erschwerte kirchentreuen Katholiken die Möglichkeit, sich selbst kundig zu machen. Mitunter wurde Kant regelrecht verteufelt und galt als zerstörerisches Gift sowohl für den Glauben als auch für den 'gesunden Menschenverstand'.

Während einige Beiträge Hintergründe und Vorgeschichte des Anti-Kantismus im Vatikan genau erläutern, werden in anderen Artikeln die Folgen der Indizierung der "Kritik der reinen Vernunft" eingehend untersucht. In anderen wiederum geht es um die Wirkung Kants in katholischen Ländern Europas, in den Vereinigten Staaten von Amerika, bei deutschsprachigen Theologen, in deutschsprachigen Schulen des 19. Jahrhunderts und um die katholische Kantrezeption im 20. Jahrhundert. Eine Reihe von Autoren wiederum erörtert Kants Stellungnahme zu philosophischen Grundfragen von Theologie und Kirche sowie die religiöse Dimension seiner kritischen Metaphysik. Dabei kommen auch unterschiedliche, zum Teil kontroverse Akzente in der Interpretation Kants und in der Beurteilung der katholischen Kantrezeption zu Sprache.

Nicht wenige der hier vertretenen sachkundigen Autoren stützen sich bei ihren Ausführungen auf bisher unbekannte Quellen und bieten mit ihren Aufsätzen mancherlei Stoff für neue Forschungsarbeiten.

Zwischendurch tauchen immer wieder brisante Fragen auf wie etwa: Kann man Kants Philosophie 'christlich' nennen? Welche Rolle spielen Kirche und Offenbarung in seinem System? Ist Kant ein Philosoph des Protestantismus oder eher einer des Katholizismus? Untergräbt seine Transzendentalphilosophie Grundpositionen der katholischen Glaubenslehre? Müssen Katholiken weiterhin Furcht vor Kant haben?

Die meisten Autoren sind sich darin einig, dass Kant eine enge positive Beziehung zum Christlichen gehabt und das Christentum allen anderen Religionen vorgezogen habe. Er habe in der Bibel gern gelesen und sie bis ins hohe Alter geschätzt, behauptet Aloysius Winter, doch sei er bemüht gewesen, seine persönliche nüchterne Frömmigkeit in seinen Veröffentlichungen zu verbergen. Gleichwohl hielt er auch bei der Bewertung der Bibel die Vernunft für den letzten "Probirstein der Wahrheit" und interpretierte selbst die Offenbarung innerhalb der Vernunft.

Axel Schmidt glaubt sogar, dass es Kant nicht allein um die menschliche Freiheit gegangen sei, sondern ebenso um das rechte Denken über Gott. Kants Ideal kritischer Rationalität sei nicht aufgestellt worden, "um den Gottesbezug des Menschen zu verunmöglichen, sondern um ihn angesichts der Gefahr rein naturalistischer Weltbetrachtung zu retten."

Die Aufhebung des Index im Jahr 1966 war zweifellos ein Segen - da sich Katholiken nun nicht mehr auf Aussagen aus zweiter Hand verlassen mussten - und führte zur Belebung des Studiums der Werke Kants durch katholische Leser, das die Indizierung der "Kritik der reinen Vernunft" behindert hatte. So hat sich nach zögerlichem Beginn das Verhältnis der katholischen Öffentlichkeit zu Kant im Lauf des 20. Jahrhunderts entspannt. Inzwischen befassen sich zahlreiche katholische Forscher mit seiner Philosophie und genießen große Anerkennung als Kantianer. Eine Rolle mag dabei gespielt haben, dass Kant als Metaphysiker neu entdeckt worden ist. Hilfreich ist die Besinnung auf Kant allemal, da religiöse Fragen, an denen der Sinn des menschlichen Lebens hängt, heutzutage oft esoterisch-irrationalen Moden preisgegeben werden. Zudem sollte nicht übersehen werden, mahnt der Herausgeber Norbert Fischer, dass auch eine glaubenslose Gegenwart nicht selten Zuflucht sucht bei Kants kritischer Philosophie. Das Kantische Denken kann ferner, laut Karlheinz Ruhstorfer, dazu beitragen, die freiheitlichen Potenzen der christlichen Offenbarung freizulegen - mit entscheidenden Auswirkungen auf Staat und Kirche.

Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass Kant gegenwärtig aktueller ist denn je, selbst im kirchlichen Raum, vor allem nachdem man auch hier erkannt hat, dass man Zustimmung zu Sätzen über Natur und Existenz Gottes nicht erzwingen kann. Eine Rückkehr zu Kant hilft daher vielleicht mit, auf ein zukunftsgewandtes Denken vorzubereiten, vielleicht sogar, "um mit Kant über Kant hinauszugehen."


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Norbert Fischer (Hg.): Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte.
Herder Verlag, Freiburg 2005.
638 Seiten, 85,00 EUR.
ISBN-10: 345128507X

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