Kulturwissenschaftliche Trauma-Analysen der vernünftigen Art

Hannes Frickes Studien über psychisches Leid, Literatur und Empathie

Von Harald WeilnböckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Harald Weilnböck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der literaturtheoretisch bewährte Leser atmet sofort erleichtert auf. Denn Frickes kulturanalytische Anwendung des Psychotrauma-Begriffs nährt sich nicht, wie immer noch überwiegend üblich, aus den irreführenden - und eigentlich halbwissenschaftlich-mystisch verfassten - Quellen der poststrukturalistischen 'Trauma-Philosophie'. Die von Richard Rorty und anderen ausgehende, überaus nachhaltig wirkende Konjunktur von Betrachtungen über 'das Trauma und die Kunst' ging ja stets auf eine fundamentalontologische Inspiration zurück. Diese war im Grunde den kunstreligiösen Latenzen der traditionellen Philologien nachempfunden, worüber die anfängliche Aversion der konventionellen Geisteswissenschaften gegenüber den verschiedenen Poststrukturalismen lange Zeit erfolgreich hinwegtäuschte. Die psychotherapiewissenschaftliche Empirie und Methodologie wurde dabei zumeist völlig übergangen, oder schlimmer noch: sie wurde anflugsweise zur Kenntnis genommen, um sie dann als Begriffssteinbruch zur Erzeugung eines interdisziplinären Nimbus auszubeuten, dessen Verheißungen letztlich uneingelöst blieben.

Hier hat man sich nicht gescheut, die tatsächlichen klinisch-psychologischen Zusammenhänge von seelischer Verletzung und therapeutischem Leidensausdruck so sehr auf den Kopf zu stellen, dass es zuletzt heißen konnte: Das Trauma müsse der persönlichen Artikulation "unverfügbar bleiben". Denn das "im Trauma Vergessene" sei das "adäquat Bewahrte". Und weil die Traumatik, wie z.B. Manfred Weinberg sagt, dem Gedächtnis ohnehin "schon immer eingeschrieben" ist, käme es einer untunlichen "Exkorporation des Traumas" gleich, sie schnöderweise erinnern und erzählen zu wollen. - Als ob das poststrukturalistische 'Begehren' Angst bekommen hätte, das geheime Gravitationszentrum seiner "immer schon" flottierenden und nie ankommen dürfenden Signifikanten zu verlieren.

Eine zutiefst philologische Haltung des "Bewahrens" - von Schrift, Kultur, Kunst etc. - scheint sich in ganz unvermerkter und eigentlich widersprüchlicher Weise zu allererst gegen das - individuelle und kulturelle - Erzählen selbst richten zu wollen. Wer jedoch menschliches Leiden und vor allem die Geschichten hinter dem Leiden nicht so freizügig wie möglich ausgesagt sehen will, betreibt nicht "Be"-, sondern "Verwahrung" - und paktiert unwillkürlich mit der Gewalt in der Welt. Er gibt Strebungen Raum, die im Grunde anti-intellektueller und gegenaufklärerischer Natur sind, und pflegt den alten Ungeist der gedankenreichen Entempirisierung von psychosozialen Sachverhalten.

Nichtsdestoweniger hat dieser Habitus große Konjunktur und macht kurioserweise auch vor dem wichtigsten psychoanalytischen Organ deutscher Sprache nicht halt. Wenn der Literaturwissenschaftler Stefan Braese in der "Psyche" einen an sich überaus lesenswerten Aufsatz über Primo Levi schreibt, schiebt sich wie von selbst eine eigentlich ganz unnötige Textseite ein, in der Kathy Caruths Setzungen Referenz erwiesen wird, dass "das Trauma" nicht nur "zum Zeugnis" werden, sondern auch "zur Heiligung gelangen" soll, wie gesagt: Das Trauma, und nicht etwa die Betroffenen, was mit der weiteren Annahme korrespondiert, dass die narrative Erschließung von traumatischer Erfahrung Gefahr laufe, ein "Sakrileg" darzustellen, weil sie nämlich "die wesentliche Genauigkeit und starke Wirkung" des Traumas gefährde und "den Verlust der für das Ereignis so wesentlichen Unfassbarkeit" befürchten lasse. Und dies wird dann zusätzlich durch W. G. Sebalds trauma-pathetische Äußerungen überboten, dass, wer "die Verstörung zugunsten der Mitteilung und Erinnerung des Traumas" aufgibt, "Verrat betreibt und den Toten die Treue bricht". Muss man dergleichen etwa so verstehen, dass die Menschen, die Psychotraumata erlitten haben, auch weiterhin mit "wesentlicher Genauigkeit, Unfassbarkeit und starker Wirkung" an ihnen leiden sollen, damit nicht namentlich benannten Toten "die Treue gehalten" wird - und gewisse kunstkritische Geschmacksansprüche erfüllt sind?

In jüngster Zeit vermochten solche 'trauma-philosophische' Inspirationen zuweilen sogar in den Geschichts- und Sozialwissenschaften Fuß zu fassen, die doch in aller Regel ein wesentlich präziseres Empirieverständnis haben. So blieb der seit kurzem zu größerer Bekanntheit gelangte Sozialpsychologe Harald Welzer nicht frei davon, sich an den im Moment grassierenden anti-narrativen und gegentherapeutischen Affekten zu beteiligen: "Die Ideologie des Durcharbeitens und Konfrontierens schreibt nur den Opferstatus fest", und "nur die schlechten Therapeuten halten sich an Glaubenssätzen fest - dass Erinnern grundsätzlich besser als Vergessen sei", so tönte es in der überregionalen "Frankfurter Rundschau". Es scheint beinahe, als wäre dieses trauma-philosophische Mantra der Klage über die Trivialisierung, Normalisierung, Banalisierung und Einzigartigkeits-Beraubung des Traumas - zumal sie, wie Michael S. Roth vermutet, von "einer narrative Lust" herrühren - der diskurspolizeiliche Backstage-Pass, der von den heideggerisierenden Wächtern der philologischen Ordnungen erhoben wird. Er wird immer dann fällig, wenn die psychologischen Fremdwissenschaften den Interpretations- und Methodengewohnheiten der Geisteswissenschaften allzu bedrohlich nahe treten. Dass jede empirische Person, die akut an Traumatisierungen leidet, mit allen ihren Möglichkeiten darauf hinwirken muss, wenigstens ein wenig von dieser Normalisierung für sich zu erreichen, liegt weit jenseits dieser philosophischen Perspektive.

So wird sich jeder praktizierende Psychotherapeut, der Welzer, Roth, Weinberg und andere Vertreter dieser nicht wenig weit verbreiteten, schillernden Tradition der (Sozial-)Philosophie wahrnimmt, ungläubig die Augen reiben; und eigentlich auch jeder kritische und methodenbewusste Kultur- und Gesellschaftswissenschaftler müsste dies tun - und sei es nur deshalb, weil Goethes "Tasso" es war, der ausrief: "Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide." Hatten doch die "Narrative" in der Kunst, der Psychotherapie wie auch in der Historiografie, die ja, laut Alfred Krovoza, "aus rein logischen Gründen [...] eine kulturelle Praxis der Enttraumatisierung" sein muss, stets alle Hände voll zu tun, geschehene Gewalt, so gut es geht, zu identifizieren und 'durchzuarbeiten'. Ist es doch ein übergreifendes Ziel aller Wissenschaft, die Gewaltspirale zu unterbrechen, die Hannes Frickes emphatischer Titel - "Das hört nicht auf" - eindrücklich in Erinnerung ruft.

Frickes Sammlung von psychotraumatologischen Literaturanalysen ist von all der genannten Philosophie nicht betroffen und stellt stattdessen die im Grunde handlungstheoretische Frage nach den "Bewältigungsmöglichkeiten der Literatur". Dabei bezieht Fricke seine psychologische Expertise aus gut fundierten klinischen Quellen: vor allem aus den Arbeiten von Gottfried Fischer/Peter Riedesser und Luise Reddemann (ferner von Peter Fiedler und Peter Levine). So liegt eine Reihe von Literatur- und Filmkommentaren vor, die schon wegen der Auswahl an Texten und Filmen aus den internationalen Kanon- und Off-Kanon-Bereichen überaus lesenswert ist. In seiner Gliederung ist der Band den Rubriken der speziellen Psychotraumatologie verpflichtet (z. B. Vernachlässigung, Flucht und Vertreibung, Folter, sexualisierte Gewalt u. s. f.).

Fricke beginnt mit einem Blick auf Goethes "Faust" und zeigt, wie die frühe Fassung (der "Urfaust") mit großer psychotraumatologischer Authentizität Gretchens familienbiografische Vorgeschichte sowie ihre akute Unfähigkeit darstellt, zusammen mit Faust den Kerker zu verlassen. Da jedoch Goethe seine eigene Prosa, wie er sagte, in ihrer "Stärke und Natürlichkeit [...] ganz unerträglich" fand, hat er den "ungeheueren Stoff" in den Reimen der Endfassung idealisierend abgedämpft. Unter der psychotraumatologischen Rubrik des 'punktuellen traumatischen Ereignisses' behandelt Fricke zunächst die Batman-Comics aus den Dreißigerjahren, deren Sujet - der früh traumatisierte, aber übermächtige Retter und Rächer aller Verbrechen - gerade im Kino des letzten Jahrzehnts eine überaus weitreichende Wiederbelebung erfuhr. Im spezifischen Modus der Bildabfolge des Comics findet Fricke das "paralogische", dissoziative Strukturgesetz von Trauma-Erinnerung und Flashback auf.

Myron Levoys Jugendbuch "Der gelbe Vogel" erzählt darüber, wie ein in die USA emigriertes, von Gestapo-Schergen schwer traumatisiertes Mädchen im Kontakt mit einem Nachbarjungen über das Medium des Puppenspiels wieder beginnt, zu sprechen und Wirklichkeitskontakt herzustellen. Der monomane Rachedurst, mit dem Melvilles Ahab den Wal Moby-Dick verfolgt und dabei den schwer traumatisierten Schiffsjungen Pip als Quasi-Bruder zu sich nimmt, wird als weiteres Beispiel angeführt. So recht 'momentan' und 'punktuell' sind freilich nur die wenigsten Psychotraumata, auch das von Ahab nicht. Denn das traumatische Erleben wie auch die Verarbeitung sind Prozesse, in die die gesamten lebensgeschichtlichen Dispositionen der Person mit eingehen. Dies gilt insbesondere auch für Arundhatis Roys Roman "Der Gott der kleinen Dinge" (1997), der die innere und äußere Gewalt der indisch-hinduistischen Kastengesellschaft zur Darstellung bringt und zu einem undurchdringlichen Geflecht aus familiärer, psychischer und staatlicher Gewalt verdichtet.

Agota Kristofs gleichermaßen atemberaubende wie erdrückenden Roman-Trilogie, "Das große Heft" (1986), "Der Beweis" (1988), "Die dritte Lüge" (1991), begreift Fricke in überzeugender Weise als narrative Rekonstruktion einer innerfamiliären Gewaltszene zu Kriegszeiten. Sie stellt sich zunächst kryptisch in den albtraumartigen, quasi-psychotischen Wahnbildern des Kindes dar, bis im dritten Roman die traumatischen Erlebnisse erkennbar werden. Auch Binjamin Wilkomirskis kontroverse Pseudoautobiografie "Bruchstücke" (1995), in der der Autor (im Zuge einer psychotherapeutischen Behandlung) eine frühe Kindheit im KZ konfabuliert, fasst Fricke unter der Rubrik der 'beziehungstraumatischen Vernachlässigung' und 'sequentiellen Traumatisierung'. Die Rekonstruktion der tatsächlichen Kindheitsgeschichte des Autors, der Schweizer Bruno Dössekker, die sich zwischen verschiedenen ungeeigneten Pflege- und Adoptiveltern bewegt, macht deutlich: Die zum autobiografischen Roman geronnene Fantasie eines frühen KZ-Schicksals ist "narrativ wahr", während sie faktisch unwahr ist. Wichtiger als die Frage, wie man über die Shoah schreiben dürfe, ist die, welches Erzählen zum individuellen und gesellschaftlichen Durcharbeiten von traumatischen Ereignissen/ Erlebnissen beitragen kann. Denn Dössekker ist sein eigener Roman - und seine Psychotherapie - nicht deshalb schlecht bekommen, weil er sich eines Verstoßes gegen die vergangenheitspolitischen Etikette schuldig gemacht hätte, sondern weil er einer weitreichenden projektiven Verdeckung seiner eigenen, tatsächlichen Traumageschichte aufgesessen ist. Peter Hoegs "Der Plan von der Abschaffung des Dunkels" (1995) schließt sich in der psychotraumatologischen Rubrik der Vernachlässigung an.

Die psychosoziale Deformation von Frontsoldaten durch die 'Kriegserfahrung' schildert Fricke anhand von Christa Wolfs "Kassandra" (1983), Tolkiens "Herr der Ringe" (1954) sowie dem Buch und einem Film über den amerikanischen Kino-Helden Rambo, der die Dschungelkriegsführung zuhause gegen die eigene Staatsmacht einsetzt (1972/1982). Mit Georges Orwells "1984" (1949) ist die psychologische Folter thematisiert; und Double-Bind-Kommunikation wird als Grundmechanismus von Beziehungstraumatik erkennbar. In Ariel Dorfmanns Theaterstück "Der Tod und das Mädchen" (1991, Polanskis Verfilmung 1994) treffen ein Folteropfer und ihr Täter aufeinander, und es stellt sich die Frage der persönlichen und gesellschaftlichen Verarbeitung nach dem Untergang eines Folterregimes. In ähnlichen Zusammenhängen wird auch Inka Pareis Roman "Schattenboxerin" (2003) angesprochen, in dem ein Vergewaltigungsopfer zur Kampfsportlerin wird.

Mit Günter Grass' "Im Krebsgang" (2002) werden die sich über drei Generationen erstreckenden Wirkungen angesprochen, die die Zerstörung des am Ende des zweiten Weltkrieges torpedierten Flüchtlingsschiffs Wilhelm Gustloff in der Familie einer Überlebenden gezeitigt hat und die dazu führt, dass der rechtsradikale Enkel ein antisemitisches Gewaltverbrechen begeht. Yann Queffélecs erschütternder Roman "Barbarische Hochzeit" (1989) über eine traumatisierte Mutter und deren in einer Vergewaltigung gezeugten Sohn beleuchtet die transgenerationale Weitergabe von unbewältigten Gewalterlebnissen bis hin zu halluzinierten Visionen des Sohns, in denen Details der von der Mutter dissoziierten Traumaszene aufscheinen. Hier sollte allerdings eher von quasi-psychotischen Introjekten als von Flashback gesprochen werden.

Die in der Tat brisante Frage nach "Täterschaft und Traumatisierung" stellt Fricke zunächst im Blick auf Bernhard Schlinks "Der Vorleser" (1997). Täterschaft wird ferner anhand von Thomas Harris' Roman-Trilogie über den Psychopathen und Psychiater Hannibal Lecter thematisiert ("Der rote Drache", 1982, "Schweigen der Lämmer", 1989, "Hannibal", 1999). Dabei wird in erhellender Weise die psychotraumatologische Verwandtschaft zwischen dem jeweiligen psychopathischen Verbrecher, dem/r engagierten Strafverfolger/in und dem beratenden Psychiater herausgearbeitet. Freuds Begriff der "oralsadistischen Entwicklungsstufe" ist dabei heute sicherlich weniger hilfreich als die Konzepte der dissoziativen prä-psychotischen Täterintrojekte, deren Wirkungsweise in den Romanen und Verfilmungen psychologisch präzise umgesetzt wird. Auch in Henning Mankells "Vor dem Frost" (2002) und dem Migrations-Drama "Zeit im Dunklen" (2003) werden psychosenahe, tief integrierte Borderline-Phänomene behandelt.

Es liegt eine bemerkenswerte Sammlung und weitgehend treffliche Kommentierung von zeitgenössischer Literatur über menschliche Leidenszusammenhänge vor, die mit dem jüngst von Eva Jaeggi und Hilde Kronberg-Gödde herausgegebenen Band "Zwischen den Zeilen. Literarische Werke psychologisch betrachtet" (2004) vergleichbar ist. Zielführender vielleicht als der allzu philologische Impetus, systematisch ein Genre oder eine Textsorte der Trauma-Erzählung zu konzipieren und dessen Kennzeichen zu definieren, scheint es, den jeweiligen Einzeltext mit noch größerer Einlässlichkeit auf die spezifischen narrativen Verfahren hin zu untersuchen. Denn die allgemeinen Strukturkennzeichnungen von 'Traumatexten' (Parataxe, einfache Wortwahl, Formen der Auslassung und des Erzählabbruchs, plötzliche Themenwechsel, eigentümlich insistierende Rekurrenzen, eine stark diskontinuierliche Zeitstruktur bzw. "eine seltsam schimmernde Form des Präsens") sind zwar durchaus aufschlussreich und auch aus klinischer Sicht stimmig; als textuelle Befunde jedoch, die ja dem Einzelwerk bzw. der individuellen Autorpersönlichkeit gerecht werden sollen, bleiben sie zu allgemein.

Auch sollte die genaue Inhalts- und Formanalyse der Texte nicht durch eine thematische Sachrecherche ersetzt werden. Das Referat von Material aus dem Majdanek-Prozess kann für die Untersuchung von Schlinks "Vorleser" nicht einstehen, ebenso wenig wie der bloße Hinweis auf eine zweifellos interessante Untersuchung über die Spätwirkungen von Kriegstraumata bei Menschen in Altersheimen für Grass' "Im Krebsgang". Auch manche Ausflüge in populärwissenschaftliche und kulturtheoretische Quellen, von Stanley Milgram, Petrowitsch Pawlow bis Norbert Elias, scheinen entbehrlich.

Mancherorts ist auch weiterer interpretatorischer Differenzierungsbedarf erkennbar: Wenn z.B. das Folteropfer Paulina (bei Dorfmann) zur Klärung der Identität des Täters eine gezielte Fehlinformation einsetzt, ist die Annahme, sie hätte dieses Verfahren von ihrem Folterer gelernt, nicht schlüssig, wie es ferner abwegig ist, angesichts dieser kleinen und gerechtfertigt zweckvollen Unaufrichtigkeit weiterreichende Überlegungen darüber anzustellen, dass "Folterer und Gefolterte einander ähnlich geworden" wären. Auch Aussagen dergestalt, dass "eine Ich-Erzählung meist eindrücklicher [wirkt] in der Schilderung traumatisierenden Leides", bleiben allzu pauschal. Frickes Kritik an der philologischen Narratologie ist keineswegs unberechtigt. Es müsste ihr aber mehr Substanz verliehen werden, indem genauer auf die auch bei sehr viel empirienäheren Forschungen zum menschlichen Erzählen anzutreffende Abwehrhaltung gegenüber der psychoaffektiven Dimension eingegangen wird. Keinesfalls jedoch muss man deshalb die eher handwerklichen Instrumente der Erzähltextanalyse von Gérard Genette und anderen gering schätzen.

Noch viel weniger sollte man sich der zwiespältigen Sorge hingeben, ob "der konstruierte Trauma-Diskurs nicht wieder nur ein Diskurs [ist], der als Versuch, das undarstellbare Geschehen darzustellen, selbst ein Surrogat [...] ist, das die tief Verstörten gebraucht und so missachtet." Gerade ein so ernsthaft interdisziplinär orientierter Literaturwissenschaftler wie Hannes Fricke muss sich diesem - unsachgemäßen - moralischen Skrupel nicht aussetzen; und er sollte dies umso weniger, als es sich dabei um eine traditionelle philologische Demutsgebärde handelt, die es in sich hat. Wird sie doch unter anderem auch dafür in Dienst genommen, jegliche interdisziplinäre, handlungs- und nicht nur textwissenschaftliche Herangehensweisen an ästhetische Gegenstände abzuwehren bzw. sie moralisch zu delegitimieren. Wo also mit Pathos die diskursstrategische Unberührbarkeit der hohen Kunst beschworen wird, geht es nicht selten darum, die grandiose Richtlinienkompetenz des philologischen Hermeneuten vor der gleichberechtigten Beteiligung von interessierten Vertretern anderer Fächer zu schützen - und das kann Frickes Interesse nicht sein.

Sein besonderes Verdienst ist es, dass er eine im Grunde handlungstheoretische Literaturwissenschaft anvisiert, die die "Bewältigungsmöglichkeiten" für traumatische Erfahrungen "in der und durch die Literatur" erforschen könnte. Dies stellt in der Tat ein großes Desiderat einer interdisziplinären Literatur- und Kulturforschung der Zukunft dar, zumal sich das Gros der Geisteswissenschaften immer noch mit rein deskriptiven Ansätzen oder philosophisch-hermeneutischen Spekulationen bescheidet. Dass Fricke selbst diese Aufgabe letztlich nicht wirklich konsequent angeht und z.B. rezeptionsästhetische Überlegungen anstellt, ist verständlich, wenn man den nicht zu unterschätzenden Aufwand bedenkt, der durch ein qualitativ-empirisches Setting der Rezeptionsforschung mit Lesern und gegebenenfalls auch Autoren bedingt ist. Er wird letztlich jedoch unverzichtbar sein, damit die Literaturwissenschaft nicht mehr nur darauf zurückgeworfen ist, lediglich spekulativ mutmaßen zu können, wer was wie "in der und durch die Literatur" psychisch bearbeitet und möglicherweise "bewältigt" hat. Hier wird man freilich die schwierige Aufgabe der Bestimmung von empirisch tragfähigen Differenzial-Kriterien lösen müssen, die es z. B. erlauben, dissoziative und assoziative Vollzüge des Erzählens und Rezipierens zu unterscheiden. Wenn Fricke Bachtins Begriff der Polyphonie, d.h. der Mehrstimmigkeit von "verschiedenen Bewusstseinen" (bei Dostojewskij), als Ausdrucksform der Dissoziation begreift, hat er im Grunde genau diese Frage berührt.

Viel jedenfalls ist heute schon dann gewonnen, wenn Philologen die künstlerischen Darstellungen von individuellen und gesellschaftlichen Aspekten des Leidens und der Destruktion nicht nur als Ausdruck von menschlicher Tragik bzw. als Thematisierung eines - irgend philosophisch gesetzten - Essenzials der menschlichen Existenz begreifen und auch nicht als Emanation eines Todestriebs, Ödipus-Komplexes oder unstillbaren Begehrens. Viel ist gewonnen, wenn in Literatur und Kunst eine Praxis des mentalen Handelns und Bearbeitens von erlebter Erfahrung erkannt wird, insbesondere von seelisch verletzenden Umständen, ein psychisches Handeln also, das es ermöglichen kann - hier sollte man nicht akademisch die Nase rümpfen -, "Lebenshilfe" zu erwirken.


Titelbild

Hannes Fricke: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2004.
282 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3892448108

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