"Anders" ist anders!

Fiktionale Authentizität prägt Hans J. Schädlichs Roman, der jetzt neu aufgelegt wurde

Von Günther RütherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Rüther

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hans Joachim Schädlich zeigt sich mit seinem Werk "Anders" einmal mehr als Rechercheur und als radikaler Wahrheitssucher. Ihn interessiert nicht die Oberfläche, das Hörensagen, das Unbestimmte oder die Kulisse. Er versucht den Dingen auf den Grund zu gehen. Er zieht den Vorhang hoch und arbeitet hart an der Zeitgeschichte.

Sein Erstlingswerk "Versuchte Nähe", das 1977 erschien und 25 Texte zum real existierenden Sozialismus in der DDR enthält, setzte der in weiten Teilen erstaunten Öffentlichkeit der Bundesrepublik ein Bild von der DDR entgegen, das so gar nicht zur "Diktatur mit menschlichem Antlitz" passen wollte.

Schädlich sucht die Nähe zur Realität. Seine Prosa oszilliert dabei zwischen bloßer Fiktion, wie in seinen Romanen "SCHOTT" (1992) und "Trivialroman" (1998). Oder sie sucht das Authentische, wie in seinem 1986 erschienenen Erzählband "Tallhover", in dem er in 82 Folgen akribisch ermittelter historischer Details aus dem Leben der deutschen politischen Polizei des 19. und 20. Jahrhunderts verarbeitet und einen erzählerisch bravourösen Balanceakt zwischen literarischer Fiktion und historischer Genauigkeit zu meistern weiß. Stets schafft Schädlich einen literarischen Raum, wo die Grenzen zwischen Fiktion und Realität zerfließen.

Gilt dies auch für seinen Roman "Anders"? Nur mit Einschränkungen. "Anders" ist anders. Von seinen poetischen Werken ist es das authentischste. Die Verbindung der glänzend ausgewählten und recherchierten Geschichten wird durch eine Rahmenhandlung zusammengehalten, die letztendlich nicht zu überzeugen weiß. Zwei pensionierte Meteorologen machen es sich zum Hobby, "Fälle" der Zeitgeschichte zu studieren. Wie in ihrem früheren Beruf sammeln sie Daten, nur gehen sie jetzt in die Archive, suchen, werten aus und erzählen Geschichten über Menschen, die in einer Identitätskrise leben, weil sie nicht sein wollen, wer sie sind.

Cicero umkehrend, heißt es: "Wenn wir nicht für das gehalten werden wollen, was wir sind, kommt alles darauf an, dass wir uns nicht so geben, wie wir sind....".

Dieser Satz führt zur Grundproblematik: Den Identitätsverlust von Menschen in schwierigen Situationen wie z. B. bei politischen Umbrüchen. Das ist der Stoff, nach dem die beiden Meteorologen forschen. Sie stoßen dabei auf brisante Fälle. So geht es unter anderem in den Jahren 1937-1945 um die Frage: Was wussten die Bürger der Stadt Weimar über das Konzentrationslager Buchenwald? Die Klimaforscher - nun Spezialisten für das gesellschaftliche Klima - recherchieren, wo die KZ-Häftlinge überall eingesetzt wurden. Beispielsweise beim Bau der "Willy-Marschler-Siedlung", einer neuen Polizeikaserne, und gehen der Frage nach, in welchen Weimarer Betrieben z. B. sowjetische Kriegsgefangene Zwangsarbeit leisten mussten.

Ferner benennen die beiden Hobbyhistoriker die Weimarer Betriebe (ca. vierzig an der Zahl), die das KZ belieferten mit Lebensmitteln oder mit Kohle und Brennholz. Ob sich alle an das Schweigegebot gehalten haben und verschwiegen, was sie sahen?

Eine andere Geschichte räumt mit der Legende auf, die Bruno Apitz mit seinem weltberühmten Roman "Nackt unter Wölfen" in der Verfilmung der DEFA von Frank Beyer erzählt. Danach konnte der jüngste Überlebende in Buchenwald, der vierjährige Stepan Jerzy Zweig, durch den heldenhaften Mut der Lagerkommunisten gerettet werden. Die Hobbyhistoriker weisen nach, dass viele an der Rettung des Jungen beteiligt waren und der kleine Stefan nur durch einen Opfertausch überlebte. Für ihn musste der Zigeunerjunge Willy Blum sterben.

Lesenswert ist auch die Recherche über Hans Schwerte und seine Freunde. Schwerte, mit richtigem Namen Hans Ernst Schneider, der zur geistigen Führungselite der SS gehörte, legte sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Identität zu. Mit Hilfe seiner einstigen SS-Gefährten brachte er es zum Germanistikprofessor an der RWTH Aachen, wo er 1970 - jetzt angepasst an den links-liberalen Zeitgeist - sogar zum Rektor der Universität gewählt wurde.

Schädlich geht diesen Verstellungen nach und demaskiert diejenigen, die sich anders darstellen als sie sind. Zum größten Teil handelt es sich dabei um öffentlich bekannte Personen oder um Vorgänge des öffentlichen Lebens, aber nicht nur. So schildern seine Meteorologen auch den totalen Identitätsverlust einer an Alzheimer erkrankten Frau oder eines Philosophieprofessors, der putzen geht, weil sein Geld nicht ausreicht. Vor allem interessant sind jedoch die eigentlich historischen "Fälle". Hier verblüfft der Autor die Leser mit einer sensationellen Detailkenntnis, die nicht ohne ein intensives, zeitraubendes Studium erworben werden konnte. So berichtet denn auch einer der beiden Hobbyhistoriker, dass ihn das Herumkramen in Lebensdaten anderer Leute das Leben koste.

Hans Joachim Schädlich hat einmal mehr ein ungewöhnliches, ein anderes, ein fesselndes Buch geschrieben. Was bedeutet es da schon, dass es sich dabei um einen Roman handelt. Vielleicht dient diese Bezeichnung vor allem dem Schutz des Authentischen.


Titelbild

Hans J. Schädlich: Anders. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
224 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 3499239051

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch