Der Riesenkanon

Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky auf DVD

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man könnte den Herausgebern der DVD einen Hang zur Vollständigkeit vorwerfen. Auch, dass sie ein elektronisches System verwenden, das benutzerfreundlich ist und sich nicht "Expertensystem" nennt. Aber dann wäre man mit den Vorwürfen auch schon am Ende angelangt, denn mit der hier vorliegenden Textsammlung hat man wohl eines der umfangreichsten elektronisch verfügbaren Konvolute von Texten zur deutschsprachigen Literatur vorliegen. Die Herausgeber warten mit mächtigen Zahlen auf: ca. 600.000 Seiten oder 2.900 Werke. Was sollte da noch fehlen?

Der 125. Band der Digitalen Bibliothek kommt mit der bekannten Oberfläche für das Betrachen und Recherchieren der Texte, mit den verbesserten Recherchefunktionen und einem ganzen Strauß von Softwareverbesserungen - aber das ist man von Version zu Version schon gewohnt. Daher scheint ein kritischer Blick auf den Inhalt gestattet - denn für wen sind die 2.900 Werke gedacht? Was benötigt man wirklich und welche Merkwürdigkeiten und Besonderheiten kann man in diesem riesigen Meer von Buchstaben entdecken?

Wo fängt man an, wenn man 600.000 Seiten vor sich hat? Mit dem Inhaltsverzeichnis natürlich. Es fällt schwer, bei der Durchsicht jemanden zu finden, der nicht vertreten ist. Sogar Randbereiche, etwa eigentlich dem Bereich Philosophie zugehörende Autoren, sind mit ihren vor allem literarischen Texten vertreten, siehe Nietzsche. Zwar kann man hier immer mal wieder die Auswahl kritisieren, aber was auffällt ist, wie viele Erstdrucke den hier edierten Texten - und so kann man es ja fast nennen, wenn auch auf dem Niveau einer Studienausgabe - zugrunde gelegt wurden. Und dies muss hier noch einmal deutlich hervorgehoben werden: Die Textsammlungen und Editionen der Digitalen Bibliothek sind - ganz im Unterschied von vielen im Internet oder an anderer Stelle veröffentlichten elektronischen Texten - im besten Sinne Studien- und Leseausgaben. Zwar fehlen begleitende Kommentare. Aber sie basieren nicht nur auf schon veröffentlichten Editionen, zu denen sie lediglich die elektronische Variante liefern, sondern stellen neu edierte bzw. nach den Erstdrucken erfasste Texte dem Leser zur Verfügung. Das damit genau der "Schnittpunkt zwischen Produktion und Reflexion" getroffen wird, entspricht im wesentlichen aktuellen Positionen der Editionswissenschaft.

Die Textauswahl bietet Überraschungen und Merkwürdigkeiten, die aber zu entdecken im Wesentlichen dem Benutzer und Leser überlassen bleiben sollen. Nur einige Anmerkungen seien gemacht, die auf die Problematik und die Schwierigkeiten jedweder Auswahl verweisen. Sind es die "richtigen" Romane von Wilhelm Raabe, die aufgenommen wurden? Ludolf Wienbarg ist dabei, seine "Ästhetischen Feldzüge" und überraschenderweise der Reisebericht "Holland in den Jahren 1831 und 1832". Und etwas von Nietzsche, der "Ecce Homo" (1888/89). Überraschend ist Meyrink mit dem "Golem" vertreten, aber viel interessanter und eine kulturgeschichtliche Perle ist sein "Des deutschen Spießers Wunderhorn" aus dem Jahr 1913. Und wer würde nach Ernst Wildenbruch suchen und Friedrich Spielhagen? Beide sind sie vertreten mit respektablen Textkonvoluten - näheres finde man selbst heraus. Und zum Abschluss, um die Beispiele nicht zu sehr zu strapazieren, Heinrich Zschokke: seine "Ausführungen" über den venezianischen Banditen Abellino sind dabei, aber auch der Roman "Das Goldmacherdorf" und einige Erzählungen, von denen sicherlich der nicht so bekannte Text "Ein Narr des neunzehnten Jahrhunderts" am interessantesten ist. Als "letzter" Text auf der DVD, verweist er auf die Aktualität von Literatur und auf die Möglichkeiten, die solche umfangreichen Sammlungen von Texten enthalten können. Der Protagonist der Erzählung beklagt seine Unbeliebtheit, ohne mit den realen Begebenheiten seiner Gegenwart zu kokettieren: "[...] weil ich die Lüge verachte, die Wahrheit ohne Furcht bekenne: darum werde ich noch im neunzehnten Jahrhundert wie ein Narr behandelt, ungeachtet ich der Vernunft gemäß lebe, mich gegen bestehende Verfassungen und Gesetze nicht verging, niemandem Leids zufügte, manchem Gutes erwies, nie das wahrhaft Sittliche und Anständige verletze."

Zusammenfassend kann man sagen, dass die DVD alles das bietet, was man bei der Beschäftigung mit deutschsprachiger Literatur an Texten benötigt - und noch weit darüber hinaus. Dazu die biografischen Informationen zu den Autoren, bibliografische Hinweise und die Möglichkeit, Text und Sprache miteinander in einem solch umfangreichen Textkorpus zu vergleichen. Das alles ist so vielgestaltig, dass es noch lange dauern wird, bis irgendjemand diese Textsammlung erschöpfend benutzt haben wird. Unentbehrlich für jede Bibliothek zur deutschen Literatur und Kulturgeschichte.


Titelbild

Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Großbibliothek. DVD.
Directmedia Publishing, Berlin 2005.
600.000 Seiten, 90,00 EUR.
ISBN-10: 3898535258

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