Das Albtraumschiff

Joseph O'Connors bedrückender Roman "Die Überfahrt"

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irland zur Zeit der Kartoffelpest: Die Menschen verhungern und versuchen verzweifelt, das verdorrende Land zu verlassen und in die Neue Welt zu entkommen. "Die Überfahrt" ist die Geschichte des fiktiven Schiffes "Stella Maris", das Irland 1847 verlässt, und einiger seiner Passagiere: Etwa Pius Mulvey, ein verkrüppelter Dieb und Mörder, der mit dem Ziel an Bord geht, im Auftrag einer irischen revolutionären Gruppe den verarmten Earl David Merridith zu töten. Sollte der Adlige die "Stella Maris" lebend verlassen, würde Mulvey selbst sterben müssen. Dann ist da Mary Duane, das irische Kindermädchen der Merridiths, die Jugendliebe des Earl, die eine ganz eigene Geschichte auch mit Mulvey verbindet. Außerdem David Merridith, ein Grundbesitzer, auf der Flucht vor seinen Gläubigern und in der Hoffnung auf einen Neuanfang im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Größtenteils erzählt wird die Geschichte allerdings von dem Amerikaner G. Grantley Dixon, einem "Möchtegern-Dichter und Möchtegern-Romancier" (Merridith), der ein Verhältnis mit Lady Merridith unterhält und mit leidenschaftlichen Zeitungsartikeln den Hunger in Irland anprangert, für den er die Großgrundbesitzer - also unter anderem seinen adligen Rivalen - verantwortlich macht. Der Roman, so wird unterstellt, beruht dabei auf Dixons Aufzeichnungen. Und Dixon behauptet, "Ein Amerikaner auf Reisen" sei ein literarisch verbrämter Tatsachenbericht: "Die Ereignisse, die ich beschrieben habe, sind geschehen. Das sind die Tatsachen. Was den Rest angeht - die Einzelheiten, Gewichtungen, gewisse Mittel der Technik und des Aufbaus, ganze Episoden, die vielleicht erfunden sind oder sich ganz anders zugetragen haben - das gehört ins Reich der Phantasie." Eine erfundene Erzählung mit wahrem Kern also, die großen Wert auf ihre angebliche Authentizität legt.

Unterbrochen und ergänzt werden Dixons Bemerkungen durch die Logbucheintragungen des Kapitäns der "Stella Maris", der an dem Zwiespalt zwischen seiner Quäkergesinnung und der grausamen Realität krankt - wie gerne würde er helfend eingreifen und die Not der Passagiere in der dritten Klasse lindern, doch die Aktionäre der Reederei, an deren Menschlichkeit er immer wieder appelliert, verschließen offensichtlich das Ohr vor seinen Klagen.

Wie furchtbar die Verhältnisse in den Zwischendecks der Auswandererschiffe gewesen sein müssen (während die Passagiere der ersten Klasse auf keinen Luxus verzichteten), wird zwar auch im Detail beschrieben, viel näher gehen dem Leser aber vielleicht die Schicksale, die sich lediglich in den kurzen Notizen des Kapitäns niederschlagen: "Damit haben wir seit Beginn der Reise [d. i. in den letzten acht Tagen] sechsunddreißig Tote zu beklagen. Vier von jenen, die heute ihre Seele aushauchten, waren noch Kinder, eines gerade erst drei Wochen alt." Und so bestätigt sich Dixons Credo: "Außerhalb des Rahmens, jeweils am Rande steht oft das, was wirklich zählt in einem Bild."

Seinem Roman hat Joseph O'Connor unter anderem folgende zwei Zitate vorangestellt. Die Hungersnot, so Charles Trevelyan, Sonderbeauftragter der Regierung Ihrer Majestät, 1847, "ist Gottes Strafe für ein faules, undankbares, rebellisches Land, ein stumpfsinniges und unselbständiges Volk. Die Iren leiden unter einer Plage, die ihnen die göttliche Vorsehung gesandt hat." Ganz anders James Conolly, einer der Anführer des Osteraufstands gegen die britische Herrschaft, 1916: "Die Vorsehung schickte die Kartoffelpest, doch der Hunger war das Werk Englands... Wir sind die scheinheiligen Reden derer leid, die sagen, wir dürften das britische Volk nicht verantwortlich machen für die Verbrechen seiner Regierung gegen Irland. Wir machen es sehr wohl verantwortlich."

Zwischen den beiden Extremen bewegen sich die Ansichten der Personen, die in "Die Überfahrt" geschildert werden. Der Text wirkt dabei perspektivenreich, er schreibt keine Schuld zu, sondern versucht, jeder seiner Figuren nahe zu kommen und ihren Absichten und Motivationen nachzugehen. Jede der erzählenden Figuren hat ihren eigenen Ton - wortgewandt oder -karg, klagend oder mutig - und ihren eigenen Standpunkt. In Vor- und Rückblenden wird die Geschichte der Personen erzählt, und nach und nach erschließt sich dem Leser ein Netz aus Beziehungen, das die Passagiere miteinander verbindet - ein Netz, das sich immer engmaschiger um die Charaktere zusammenzieht. Das Schiff bietet nur begrenzten Raum, man kann Konfrontationen nicht ausweichen, schwärende Konflikte kommen zum Ausbruch. Am Ende werden alle Handlungsfäden zusammengeführt, denn "manche Leser werden nicht zufrieden sein, bevor nicht jeder Strang der Erzählung zu Ende gebracht ist" - möglicherweise erscheint es überflüssig, wirklich jeden Erzählstrang in das dichte Gewirk der Geschichte einzuflechten und sein Ende ins Muster zu integrieren, doch es passt zu G. Grantley Dixons methodischem Charakter, dass es ihm nicht gefällt, seinen Roman abzuschließen, ohne dem Leser mitteilen zu können, was aus seinen Mitreisenden geworden ist.

Ob "Die Überfahrt" historischer Roman, Thriller oder gelungene Personenstudie ist, ist kaum zu entscheiden - spannend ist sie auf jeden Fall, wenn dem Leser nach und nach das Schicksal der Passagiere enthüllt wird und sich die Geschichte immer schneller auf ein unabwendbares, tragisches Ende hin zu bewegen scheint. Dass die Figuren vor ihrem historischen Hintergrund glaubhaft bleiben und ihre Entwicklung nachvollziehbar ist, trägt dazu bei, "Die Überfahrt" zu einem überzeugenden Werk zu machen.


Titelbild

Joseph O´Connor: Die Überfahrt. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Manfred Allie und Gabriele Kempf-Allie.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
444 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3100540123

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