Konfetti gegen die Wirrungen der normalen Welt

Der neue Roman von Diane Broeckhoven enttäuscht durch Konvention

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ein Tag mit Herrn Jules" wurde in kurzer Zeit ein Bestseller, die niederländische Autorin Diane Broeckhoven damit international bekannt. Relativ schnell nun schob der Verlag eine weitere Übersetzung hinterher, in der es ebenfalls um ein tabuisiertes Thema geht, die Geschichte eines behinderten Menschen, eingebettet in eine Familiengeschichte.

Diese 50 Jahre umfassende Familiengeschichte spielt in einem Dorf, die Verwandtschaft ist zahlreich und Flora, Tochter der Witwe Jeanne, unfruchtbar, wovon ihre durch Operationen vernarbte Bauchdecke, die sie ständig herzeigen muss, Zeugnis gibt.

Doch dann geschieht das Unerwartete. Am Abend der Beerdigung ihrer Mutter zeugt sie mit Mon, dem Erbauer des mütterlichen Wintergartens, Roza. Die beiden heiraten, Mons erste Tochter Wiesje bleibt bei seinen Eltern, er zieht zu Flora ins Haus. Idylle, könnte man meinen, wenn da nicht das ständig verdrängte Problem wäre, dass Roza sich viel zu langsam entwickelt. Sie lernt fast nur das, was Wiesje ihr beibringt. Die Jahre ziehen ins Land. Wir erfahren, dass Flora an Sex nichts findet und Mon sich zurückhält, die beiden holen sich die technischen Neuheiten der Nachkriegszeit ins Haus durch Schwarzgeld, das Mon als Maurer nebenher verdient. Flora kann ihre Tochter nicht loslassen, so wie ihre Mutter auch sie nicht los- und in die Freiheit eines selbstbestimmten Lebens entlassen konnte. Dieses Dilemma führt nach Floras Tod zur Auflösung der Familienstruktur. Mon geht ins Altersheim, Roza zieht zu Wiesje, die mittlerweile selbst eine Familie und zwei Kinder hat.

Es steht nicht nur eine Frauenfigur im Mittelpunkt der Geschichte, vielmehr wird die Verbindung dreier Frauen gezeigt, ihre Verflechtungen und die Konsequenzen ihres Handelns nicht nur für sich selbst, sondern auch für die nächste und noch für die übernächste Generation. Der Titel passt in dieser Hinsicht hervorragend für den Mangel an Selbstbestimmung, das Tochterseinmüssen bis zum Schluss, auch wenn schon längst niemand mehr glücklich ist mit dieser Konstellation. Die Ohnmacht dringt durch, gegen die übermächtige Mutter nicht gewappnet zu sein, wenn Flora wieder einmal entmündigt ihren Bauch herzeigen muss.

Selbst Mutter, verdrängt sie ihre Ängste über Rozas Behinderung aus Stolz auf ihr einziges Kind permanent und trotzt jedem Versuch, Roza aus ihrer alles erstickenden Fürsorge zu lösen. Die Obhut wird zum Ort des Stillstands, in den nur zögernd Veränderungen eindringen können. Dazu tritt die Geld-Besessenheit Floras, mit der sie sich Träume erfüllt bis hin zum Auto, das endlich Ausflüge erlaubt.

Der Roman bleibt letztendlich in konventionellen Bildern hängen, die poetische Verdichtung wie in "Ein Tag mit Herrn Jules" fehlt. Dies nimmt dem Buch einiges von seiner Qualität, auch wenn die Geschichte selbst gut und fließend erzählt ist. Der Einblick in die Wahrnehmungs- und Lebenswelt eines Menschen mit Behinderung ist gelungen, wohltuend auch die Macken der anderen Figuren. Doch man hätte sich gewünscht, dass diese Familiengeschichte praller erzählt wird, denn die Verknappung der Handlung auf ausgesuchte Sequenzen durchbricht immer wieder die aufscheinende Saga. Die Figuren werden nicht ausagiert, die Handlung nicht unterstützt durch Nebenplots. Erzählen Romane eine über mehrere Generationen laufende Geschichte, dann ist es in der Regel ungünstig, wenn sie bei Seite 170 aufhören. Da ist zu viel erzähltes und unerzähltes Geschehen auf zu wenig Raum. Auslassungen nehmen der Geschichte Plastizität und inneren Drive. Dies ist hier leider der Fall.


Titelbild

Diane Broeckhoven: Einmal Kind, immer Kind.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Isabel Hessel.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
173 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3406536425

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