Zwischen Sinnstiftung und -auflösung

Bemerkungen zu einer Neu-Edition von "Das Käthchen von Heilbronn" im Rahmen der Brandenburger Kleist-Ausgabe

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die zeitgenössische Kritik legte sich - trotz einiger wohlwollender Stimmen zu Anfang - bei ihrer Bewertung von Heinrich von Kleists Ritterschauspiel "Käthchen von Heilbronn" recht schnell fest: Etwa durch die Etikettierung Friedrich Weissers, der in seinem Schmähartikel für das "Morgenblatt für gebildete Stände" vom 27.12.1811 den Verfasser für einen "der berüchtigsten Jünger der berüchtigten romantisch-mystischen Schule" hielt, oder durch die provozierende Frage des "Allgemeinen Deutsche Theater-Anzeigers" (Leipzig 1811), "ob [das Drama] bei einem wirklich gesunden Gemütszustande verfaßt ist, so sehr treiben sich einzelne Schönheiten mit den widersinnigsten Ausgelassenheiten in einem tollen Gemische durcheinander. Die Fantasie scheint sich von der Herrschaft der Vernunft ganz befreit zu haben, und die Diktion besonders beurkundet eine solche poetische Trunkenheit, dass man sich des Lachens, nachdem das erste Staunen vorüber ist, durchaus nicht erwehren kann". Das was Weisser als "wahre Geisteszerrüttung" zu kennzeichnen versucht, klingt bei dem vielseitigsten deutschen Romantiker, E. T. A. Hoffmann, (in einem Brief an Julius Eduard Hitzig vom 28.4.1812) schon durchaus nuancierter, wenn er sich - nach der poetischen Reflektiertheit des Dramas fragend - vom "Käthchen von Heilbronn" "in eine Art poetischen Somnambulismus" versetzt fühlt, "in dem ich das Wesen der Romantik in mancherley herrlichen leuchtenden Gestaltungen deutlich wahrzunehmen und zu erkennen glaubte".

Vor allem für die von den meisten Interpreten als zentral erachtete Holunderbusch-Szene (IV 2) ist immer wieder auf Kleists Interesse an der Theorie des Somnambulismus hingewiesen worden, die der romantische Naturphilosoph Gotthilf Heinrich Schubert auch in Kleists Dresdner Freundeskreis besprochen hat. Schubert selbst hat in seiner "Selbstbiographie" (1855) dieses Interesse bezeugt: "Denn namentlich für Kleist hatten Mitteilungen dieser Art so viel Anziehendes, daß er gar nicht satt davon werden konnte und immer mehr und mehr derselben aus mir hervorlockte". Aber so auffallend die Übereinstimmung der von Schubert in seinen "Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft" (Dresden 1808) oder in den "Ahndungen einer allgemeinen Geschichte des Lebens" (Erster Theil Leipzig 1806) - einem Buch also, das Kleist schon vor Beginn der Arbeit an seinem Drama eingesehen haben kann - beschriebenen Symptomen mit Käthchens Wachtraum auch sein mag, sie berechtigt nicht, die Interpretation des Dramas primär als ein Zeugnis der psychologischen Avantgarde zu lesen, wie Roger Ayrault dies unternommen hat: "Manche Einzelheiten aus 'Käthchen' tauchen auch in jener gefährlichen Psychologie auf, wo die Hilfsmittel der neuesten Medizin nicht genügen, den untrüglichen Blick zu ersetzen, den Kleist für diese extremen, von ihm selbst erfahrenen Zustände besaß". Die Ausschließlichkeit der psychologischen Deutung verstellt in jedem Fall den Blick auf die eminent poetologische Textur des Dramas. Geht man mit Gert Ueding davon aus, den Text als "Produkt einer artistischen ars combinatoria" zu lesen, so wird man an vielen Stellen gewahr, dass es sich bei Kleists "Käthchen von Heilbronn" um eine ästhetische Konstruktion handelt, deren Reiz sich erst erschließt, wenn man das Drama als sinnreiches Zeichen-Spiel zur Erzeugung ungewöhnlicher Vorstellungen und einschneidender Gemütserregungen versteht, als Zeugnis eines Kunstverständnisses, das die unter der mittelalterlichen Patina der Text-Oberfläche lauernde Modernität vorweg nimmt.

"Das Käthchen von Heilbronn" ließe sich dann als die mittelalterlich kostümierte Variation auf ein in allen Texten Kleists durchgespieltes Grundproblem lesen: auf die Unverhältnismäßigkeit von Wort und Wirklichkeit und das antizipierte Ende des mimetischen Kunstprinzips. Liegt der Repräsentationsästhetik noch der unverhohlene Glaube an die Identität von Schein und Sein zugrunde, gewinnt seine - in der Kunstfigur Kunigunde personifizierte - Desillusionierung eine grundsätzliche, über deren Demaskierung hinausgehende Bedeutung; denn die dramatische Lektion, der der Graf Wetter vom Strahl seine getäuschte Seele ausgesetzt sah, gilt ebenso dem fragwürdig gewordenen Maßstab ästhetischer Konvention: "Das Maß, womit sie, auf dem Markt der Welt, / Die Dinge mißt, ist falsch; scheusel'ge Bosheit / Hab ich für die milde Herrlichkeit erstanden!". Im Bild der Handelsmaße wird die 'Unangemessenheit' zum Prinzip einer neuen Ästhetik, die keiner vorgegebenen Welt mehr zu entsprechen braucht und deshalb eine irreale Gegenwelt erfindet. Jede andere, auf semiotische Kongruenz von Wort und Wirklichkeit gegründete Ästhetik wäre "falsch" in einer Welt, in der nicht zu unterscheiden ist, "ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint", wie Kleist in seinem viel zitierten Brief an Wilhelmine von Zenge vom 22.3.1801 bemerkt. Doch erst die Krise der Bezeichnung setzt die Kreativität der Zeichen voraus.

Für die im Drama inszenierte Instabilität von Zeichen und Bezeichnetem lassen sich zwei Anhaltspunkte finden. Zunächst ist es bedeutsam, dass im dramatischen Mittelpunkt der Gegenüberstellung von Käthchen und Kunigunde das Bild des Grafen, genauer: die unterschiedlich bewertete Korrespondenz zwischen Original und Abbild steht. Während der Graf das Abbild, das er leicht durch "zehn andre Bilder" ersetzen könnte, auch nicht scheinbar über das Original gesetzt sehen möchte und Kunigunde umgekehrt, in auffallender Umkehrung von Hülle und Inhalt, scheinbar auf dem Abbild beharrt ("Das Bild mit dem Futtral!" anstelle von: Das Futteral mit dem Bild), kommt Käthchen mit dem unversehrten Bild aus den brennenden Trümmern zurück, weil allein für sie die Zuordnung von Bild und Person, Abbild und Original weder willkürlich noch vorgeblich, sondern so verbindlich ist, dass sie im Bild den Abgebildeten selbst aus den Trümmern von Kunigundes Schloss retten konnte. Unter semiotischem Aspekt ist der Realitätsverlust des Sprachbildes, dem keine Wirklichkeit mehr entspricht, die krisenhafte Ausgangssituation, wie sie sich symbolisch in Kunigundes Illusionskünsten und dramaturgisch in ihrer skrupellosen Instrumentalisierung des Bilds, aber auch in der wiederholten Rhetorik des Irrealis zeigt, die die für das ganze Drama charakteristische Metaphorisierung des Religiösen betont: dem religiösen Bild entspricht keine wirklich religiöse, etwa theologisch zu interpretierende Realität mehr. Die an die Erlösung der Welt durch Christus erinnernde Epiphanie des Göttlichen in der Geschichte ist in Kleists Texten nur das poetische Bild für die Erlösung von der Krise der Bezeichnung, die im Bild des Sünden-Falls vorgestellt wird.

Auf einen anderen wesentlichen poetologischen Aspekt hat Roland Reuß in seinem Beitrag für Heft 16 der "Brandenburger Kleist-Blätter" hingewiesen, die der kritischen Edition des "Käthchen von Heilbronn" beigegeben sind. Als einer der wenigen Interpreten des Dramas richtet Reuß sein Augenmerk auf die autoreflexiven Passagen des Dramas, in denen das Problem der Kunst verhandelt wird. Völlig zu Recht nimmt er seinen Ausgangspunkt bei der Streichung der - im "Phöbus"-Druck vom September/Oktober 1808 noch gebotenen - zentralen Spiegelszene am Putztisch für den Erstdruck der Buchausgabe, die am direktesten die poetologische Dimension des Textes zur Sprache bringt, gerade deshalb aber vermutlich mit der Ausarbeitung des ganzen Stücks obsolet wurde. Für Reuß reflektiert die Spiegelszene am Putztisch "als Szene vor dem Spiegel die Reflexion auf die Künstlichkeit der Kunst". Nach Kunigundes doppelsinniger Reflexion - "Nichts schätz ich so gering an mir, daß es / Entblößt von jeglicher Bedeutung wäre" mit den Lesarten: 'Was an ihr ist, ist immer mit Bedeutung versehen' und 'Wenn, was an ihr, entblößt, d.h. von jeglicher Äußerlichkeit entkleidet ist, hat es keine Bedeutung' - tritt sie ans Fenster, dem romantischen Schwellen-Ort zwischen Innen und Außen, und betrachtet die "Leimruthen, die ich weiß / Nicht, wer? an diesem Fenster aufgestellt". Obwohl sie nicht den Vogel findet, auf den sie es abgesehen hat: "Ein Finkenhähnchen war's, das ich vergebens / Den ganzen Morgen schon herangelockt", wird sie zumindest eines Zeichens, einer "Spur" gewahr: ein "Federchen. Das ließ er stecken". Reuß weist darauf hin, dass die Unterhaltung über die "Leimruthen" einen Aspekt der künstlerischen Produktion unterstreicht, "von dem Kleist wußte, daß er unvermeidlich mit jeder Verfertigung eines Textes verknüpft ist: die Notwendigkeit, daß der Leser/Zuschauer von der Außenseite des poetischen Produkts gebunden, ja gefesselt werden muß". Gleichzeitig liegt darin aber auch das wirkungsästhetische Problem, das der Text selbst zur Sprache bringt: In dem Maße, in dem die notwendige "Bindung" und "Fesselung" durch die Kunst gelingt, wird die Freiheit der Deutung immer weiter zurückgedrängt. Schließlich bliebe ein von den Bildern vollständig gefangener Leser/Zuschauer übrig: "Man weiß, an der 'Leimruthe' des vermeintlichen Inhalts klebend, zwangsläufig nicht so recht, ob 'Hirse' oder die 'Papiere', Schenkungsurkunden, gegeben werden".

Was Reuß allerdings entgeht, ist, dass das "Federchen" als Schrift-Allegorie zu lesen ist. Am Anfang von II 10 (im "Phöbus"-Fragment) spricht Kunigunde im Zusammenhang von den "Züg' an mir, die reden, die versammelt / Das Bild von einem innern Zustand geben" bereits von einer "Feder", "die du [gemeint ist Rosalie] mir stolz / Hast aufgepflanzt, die andern überragend: / Du wirst nicht leugnen, daß sie etwas sagt. / Zu meinem Zweck heut beug' ich sie danieder: / Sie sagt nun, dünkt mich, ganz was Anderes". Die hier reflektierte 'Anders-Rede' ist nichts anderes als die wörtliche Übersetzung des griechischen Verbs αλλη-γορεω für anders, d.h. bildlich reden. Die Selbstreflexion des Textes als allegorischer Schreib-Prozess ("Federchen") ist einmal mehr Hinweis auf die von Kleist gestaltete Krise der Repräsentation, die nicht wie ein Fixierbad für sprachlichen Sinn funktioniert. Vielmehr kennzeichnet die allegorische Struktur die in ihr vollzogene semantische Synthesis als ein prekäres, weil niemals zum Stillstand kommendes Unternehmen. Das bedeutet jedoch nicht - man hört die kritische Gegenrede bereits raunen -, dass Kleists Text im Rahmen einer trivialmodernen, um entscheidende Reflexionen Derridas oder de Mans verkürzten Aktualisierung des Allegorie-Begriffs gelesen werden soll, derzufolge dieser einst auf Totalisierung festgelegte Tropus nunmehr die bloße Zersetzung von Sinn anzeigen soll. Bei Kleist lässt sich vielmehr - nicht nur im "Käthchen von Heilbronn", sondern auch in vielen anderen Texten - eine durchgängige Janusköpfigkeit herausarbeiten: den prinzipiellen Widerstreit von Synthese und Differenz zwischen dem materiellen Sprachzeichen, seiner wörtlichen und seiner übertragenen Bedeutung im rhetorischen Tropus, den Konflikt von Sinnstiftung und -auflösung.

Erkennt man die grundsätzlich allegorische Textur in Kleists Texten, ist der Schritt zur nächsten (richtigen) Beobachtung von Reuß nicht allzu weit, wenn er auf die in V 3 enthüllte "'wahre' Natur Kunigundes als die eines Mischwesens" zu sprechen kommt, "das aus lauter unverbundenen Einzelteilen 'zusammengesetzt' ist". Im Drama wird sie als patchwork-Produkt aus zwei 'Natur'-produkten und zwei aus Kunst hervorgegangenen präsentiert: "Sie ist eine mosaische Arbeit, aus allen drei Reichen der Natur zusammengesetzt. Ihre Zähne gehören einem Mädchen aus München, ihre Haare sind aus Frankreich verschrieben, ihrer Wangen Gesundheit kommt aus den Bergwerken in Ungarn, und den Wuchs, den ihr an ihr bewundert, hat sie einem Hemde zu danken, das ihr der Schmidt, aus schwedischem Eisen, verfertigt hat". Ähnlich wie Käthchen, die im Text eine märchenhafte Nobilitierung von der reinen "Jungfrau von Heilbronn" (V 10) zur "Katharina von Schwaben erfährt - Tochter des "Himmels" und der Stadt "Heilbronn" -, ist auch Kunigunde ein 'Kunst-Produkt', die, wie Reuß treffend bemerkt, "den unumgänglichen Umweg über die Künstlichkeit der Apparaturen" nimmt. In Kleists Texten sehe man "die Drähte, an denen die Marionetten hängen. Die scheinbaren Defekte in der Textur seiner Stücke und Erzählungen, die befremdlichen Inkohärenzen, die die frühere Forschung nicht müde geworden ist, abträglich gegen Kleist ins Feld zu führen, sind vor allem Momente dieser destruktiven, verzweifelten Bewegung". Damit kommt Reuß der allegorischen Anlage der Texte Kleists recht nahe: Texte, die sich, um mit Walter Benjamin zu sprechen, auf der Schwelle zwischen Rekonstruktion und Destruktion, zwischen Sinnstiftung und -auflösung bewegen.

Mit dieser Sicht auf "Das Käthchen von Heilbronn" ließe sich durchaus ein erheblicher Fortschritt in der Kleist-Forschung ausmachen. Gegen gewisse Interpretationsansätze, deren Esprit sich in den Gefilden positivistischer Quellenforschung erschöpft, die aber gleichsam nicht müde werden, litaneiartig gegen die - ach so argen - 'Obszönitäten' poststrukturalistischer Lektüre der Texte Kleists zu polemisieren, setzt die Brandenburger Ausgabe einmal mehr nicht nur auf zuverlässige und unverzichtbare Editionen, sondern auch auf erfrischende, die Patina verkrusteter Deutungshierarchien abtragender Neu-Lektüren der Texte Kleists.

Titelbild

Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe Bd. I/6: Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe.
Herausgegeben von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
311 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3878773404

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