Den Opfern eine Stimme geben

Clea Koffs lebendiger Bericht über die Arbeit in den Massengräbern von Ruanda und Ex-Jugoslawien

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Jahrestag brachte Srebrenica wieder auf die Titelseiten. Grüne Grabtafeln, Tausende und Tausende Trauernder, die Särge tragen, ein riesiger Gedenkpark, der auf viele, noch zu identifizierende Gebeine wartet. Vor solch einer Zeremonie, die für die Angehörigen unerhört wichtig ist, stehen allerdings die schwer vorstellbaren Mühen derer, die Massengräber kartografieren, menschliche Überreste exhumieren und - wenn möglich - zuordnen.

Was aber sind das für Leute, die so etwas tun? Wie kann man diese Arbeit ertragen? Wie kann man überhaupt die Knochen in einem Massengrab zum Sprechen bringen? Und ist so etwas überhaupt in einem Buch mitteilbar?

Clea Koff, Anthropologin und Forensikerin, zeigt, dass man es kann, und zwar auf eine Weise, die anrührt, interessiert, belehrt und tatsächlich sogar unterhält, weil sie gut schreibt, in klaren, sehr plastischen Worten, weil sie als eindrucksvolle Person mit einer besonderen Mission immer präsent bleibt, ohne sich zu spreizen, und weil sie uneingeschränkt Menschlichkeit als Alternative zu den grauenhaften Ereignissen aufscheinen lässt.

Wie kommt man aber als Tochter eines Ehepaars, das Dokumentarfilme dreht, zu solch einer Tätigkeit, die ihr den ehrenvoll gemeinten Spitznamen "Die Knochenfrau" einbringt? Als kleines Mädchen beerdigt sie tote Vögel, gräbt sie später wieder aus, untersucht und seziert sie mit ihrem Lehrer. Was als morbides Hobby beurteilt werden könnte, zeigt in Wahrheit, wie früh Clea Koff Fragen stellt, die selten gestellt und noch seltener beantwortet werden. Was bleibt übrig von einer Existenz? Was kann man der Verwesung für Geheimnisse entreißen? Kann man Knochen zum Sprechen bringen?

Zweierlei muss man betonen: Mit der romantisierenden, banalen Darstellung der modischen Gerichtsmediziner-Serien hat das alles nichts zu tun und ebenso nichts mit einer unerträglichen Zurschaustellung Grauen erregender Ereignisse. Koff besitzt die seltene Gabe, dem Leser Scheu vor den Toten zu nehmen, deren Würde sich vor das Grauen schiebt. Sie macht sehr früh deutlich, worin die Bedeutung dieser Arbeit besteht. Weil sie die ethische Grundlage ihres Tuns so klar formuliert, verfolgt man das konkrete Vorgehen mit Spannung, wobei das Entsetzen über die menschliche Brutalität nicht weicht.

Es geht Koff darum, den Triumph der Täter zu vereiteln. Die Schlächter von gestern gehen ja davon aus, dass sie ihre Opfer zum Schweigen gebracht haben, endgültig: erst durch den Mord und dann durch das Verwischen von Spuren. Erde lassen sie von Bulldozzern über die Leichen schieben, Benzin gießen sie darüber und verbrennen sie.

Das UN-Kriegsverbrechertribunal dagegen deckt im wahrsten Sinne des Wortes solche monströsen Verbrechen auf, indem es Menschen vom Format einer Clea Koff nach Kigali, Srebrenica, ins Kosovo schickt. Es gilt, den Toten eine Stimme zu geben, das betont die Forensikerin mit Macht, und zu den ergreifendsten Stellen gehören jene, in denen Angehörige endlich Gewissheit über das Schicksal eines Vermissten erhalten oder ihre Hoffnung darauf begraben müssen.

In seltener Ausgewogenheit hält Koff in ihrem Buch die Waage zwischen persönlichem Bericht, der nah heranführt an die Gefühle und Erfahrungen dieser jungen Frau, und analytischer Beschreibung ihrer Tätigkeit und deren politischer und sozialer Bedeutung. So beschreibt sie, wie sie vorgeht, um in Ruanda einen "Kleidertag" vorzubereiten, an dem Angehörige an Hand von Hosen, Hemden, Prothesen versuchen, Vermisste zu identifizieren. Sie beschreibt aber auch, was es für sie bedeutet, all diese Suchenden, Verzweifelten, Verstörten zu sehen, sie herumzuführen, die halb fürchten, halb hoffen, etwas zu finden.

Besonders gewinnend wirkt, dass Koff sich und ihre Kollegen, so stolz sie auf ihre Tätigkeit ist, nirgends als Übermenschen darstellt, vielmehr Streit im Team nicht ausspart, Animositäten, kleine Marotten, Angstattacken. Die können auch nicht ausbleiben, wenn vor den eigenen Augen ein Mensch erschossen wird, wenn Minen ringsum drohen und Behördenvertreter oder Soldaten ihre Macht und Männlichkeit demonstrieren.


Titelbild

Clea Koff: Die Knochenfrau. Meine Arbeit in den Massengräbern für das UN-Kriegsverbrechertribunal.
Übersetzt aus dem Englischen von Karin Schuler und Heinz Tophinke.
Malik Verlag, München 2004.
348 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3890292712

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