Jede Tür eine Geschichte

"13ter Stock": Ein ganz besonderer Dokumentarfilm über ein ganz besonderes Hochhaus

Von Daniel BeskosRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Beskos

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Grohner Düne hat ja einen sehr schlechten Ruf. Asozial", sagt eine Frau. Sie lebt in der Grohner Düne, einer Hochhaussiedlung im nördlichen Bremer Stadtteil Vegesack, errichtet im Zuge des sozialen Wohnungsbaus in den 1970ern. Die beiden Berliner Filmemacher Kolja Mensing und Florian Thalhofer haben den ganzen August 2004 in einer Wohnung im 13. Stock der Grohner Düne verbracht. Und sie haben sich auf die Suche begeben nach den Geschichten hinter den vielen Türen der Hochhäuser. Mit "13ter Stock - Geschichten aus dem Hochhaus" haben die beiden ein intensives Portrait dieser Siedlung vorgelegt, in Form eines interaktiven Dokumentarfilms.

Interaktiv insofern, als die von Thalhofer entwickelte Software "Korsakow-System" eine ungewohnte, doch diesem Film und seinen Geschichten ganz und gar angemessene Rezeption erlaubt: Er ist in viele kleine, nur wenige Minuten lange Sequenzen geteilt, Kurzgeschichten aus dem Leben der Grohner. Während im Hauptfenster einer der Beiträge läuft, sind darunter drei weitere kleine Fenster zu sehen, die der Zuschauer durch Anklicken anwählen kann. So setzen sich diese vielen kleinen Abschnitte zu einem ca. 90-minütigen Dokumentarfilm zusammen, der bei jedem Ansehen anders abläuft. Die Linearität eines herkömmlichen Films weicht hier einer Gleichzeitigkeit, die dem Inhalt vollends entspricht: Vielleicht 10 oder 12 parallele Erzählstränge, parallele Leben, die dort erzählt werden. Und die ja in der Tat alle gleichzeitig passieren, in der Grohner Düne.

Was die Bewohner in den Interviews von sich preisgegeben, bestätigt nur selten die Vorurteile, die über die Siedlung kursieren. Es gibt auch keine Stimmungsausbrüche, keine heiklen Situationen, zumindest nicht vor der Kamera. Und doch wird im Grunde fast nur über Probleme geredet. Über Krankheiten, Alkoholismus, Drogen, Gewalt, Verbrechen, menschliche und familiäre Tragödien, Selbstmord. "Das sind nicht nur Leute von hier, da kommen extra Leute von außerhalb und stürzen sich da runter. Das ist wohl einfach", sagt eine Frau.

Gerade weil sich Mensing und Thalhofer immer der Klischees bewusst sind, die von außen auf die Siedlung Grohner Düne projiziert werden, gelingt es ihnen, herauszufinden, wie es dort wirklich aussieht, und dies vor allem aus Sicht der Bewohner selbst.

Thalhofer spricht im Film davon, dass es immer zuerst darum geht, einen Plan anzulegen, wie sich auch ein Designer ein Raster anlegt, um das leere Blatt Papier greifen und füllen zu können. "Grenzen", so Thalhofer, "schaffen einen überschaubaren Raum, innerhalb dessen es möglich wird zu gestalten." Das Raster der beiden Filmemacher ist zum einen ihre Konzentrierung auf einige Personen, zum anderen die Kürze der einzelnen Sequenzen, fast könnte man sie "Clips" nennen. Es sind nur kleine Einblicke in die Leben dieser Menschen, nie sehr tief, nie sehr viel. Die verfügbare Zeit ist dafür auch viel zu kurz. Dennoch gelingt es dem Film durch die gute Auswahl der Ausschnitte immer wieder, sehr authentisch Einblick in die Perspektive und den Alltag der Interviewten zu gewähren.

Wie etwa in den von Jens, der von 25 Euro in der Woche leben muss und daher nur dreimal pro Woche warm essen kann. Jens' Zähne sind schlecht, er wirkt unsicher, selbst wenn er von seiner neuen Leidenschaft erzählt, dem Aikido. Oder in den von Herrn Özgüvenc, der in seinem Ramschladen Elektrogeräte verkauft - "ich bin Sozialdemokrat", sagt er von sich.

Was überhaupt auffällt, ist die Bereitschaft und der gute Wille der meisten Bewohner, sich miteinander und mit dem eigenen Schicksal zu arrangieren, den anderen ihre Fehler zu verzeihen und das Leben so positiv wie möglich zu sehen. Zu dieser schon fast leicht verklärenden Perspektive passt auch die durchweg positive (und nebenbei: äußerst gelungene) Musikauswahl, mit der der ganze Film unterlegt ist. Es wird klar: Dies ist sicher nicht der schönste Ort zum Leben - und doch leben Menschen hier. Das macht ihn menschlich. So oder so. "Jeder Tag wunderbar" singen "Jeans Team" zu Beginn des Films, ein blauer Himmel ist zu sehen, die Sonne scheint, auch in Herrn Özgüvencs Laden. Ein großer kleiner Dokumentarfilm.


Titelbild

Kolja Mensing / Florian Thalhofer: 13ter Stock. DVD-Rom.
Verbrecher Verlag, Berlin 2005.
15,00 EUR.
ISBN-10: 3935843534

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