Eine Festgabe ans offene Grab

Zu Robert Menasses gesammelten Österreich-Essays: "Das war Österreich"

Von Elisabeth KapfererRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elisabeth Kapferer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Jahr 2005 ist in Österreich in gleich mehrfacher Hinsicht zum Jubeljahr, Gedenkjahr, und mehr noch, zum "Gedankenjahr" erklärt worden (Kriegsende 1945, Staatsvertrag 1955, EU-Beitritt 1995). Auch an der Literatur ging das nicht spurlos vorüber, was sich nicht zuletzt in zahlreichen einschlägigen belletristischen wie essayistischen Publikationen gezeigt hat, die rechtzeitig zum Jahresanfang oder im Laufe der letzten Monate erschienen sind. Und auch Robert Menasse, oder besser gesagt, der Suhrkamp-Verlag hat ein Festgeschenk gereicht, einen Band mit Essays zur österreichischen Identität, zusammengetragen aus zahlreichen früheren Publikationen. Sie wurden neu arrangiert, zum Teil überarbeitet und um einige neue, noch nicht in Buchform veröffentlichte Texte der letzten Jahre ergänzt.

Man könnte nun meinen, das wäre ein Anlass zur Freude: Man könnte nun endlich all jenen, die Menasse als Essayisten noch nicht kennen, diese Sammlung empfehlen. - Lieber nicht. Das Textmaterial, das hier kompiliert wurde, reicht bis in die tiefen 80er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Genaueres erfährt man allerdings nicht, kein einziger der Essays ist datiert. Die ursprüngliche Chronologie wird stellenweise zugunsten einer mäßig originellen neuen Anordnung verlassen. Anstelle einer fundierten editorischen Notiz gibt es allein den knappen Hinweis, die spezielle Auswahl und Anordnung der Texte (und, so denkt man sich, wohl auch die ihnen hinzugefügte, theatralische Übertitelung) zeige die "überraschend tragikomische Dramaturgie in der Entwicklung Österreichs" nach 1945. Näher wird diese zweifelhafte Erklärung des Herausgeberkonzepts nicht erläutert, aber vielleicht ist das auch besser so, und die Texte können für sich selbst sprechen. Historische Texte vermögen dies jedoch in aller Regel nicht zur Gänze, sondern sie bedürfen der Erläuterung und des Kommentars. Zu diesen Essays aber gibt es keinerlei Anmerkungen, wiewohl sie an mehreren Stellen gerade in Hinblick auf nicht-österreichische Leser wünschenswert, wenn nicht notwendig wären. Hinweise zu den ursprünglichen Publikationsorten gibt es merkwürdigerweise ebenfalls nicht. Auch Menasse selbst ist etwas großzügig datiert, erscheint er doch in der biographischen Notiz gleich neun Jahre älter, als er ist. Das anzumerken mag pedantisch wirken, angesichts einer Auseinandersetzung mit der Zweiten Republik ist es jedoch nicht unwesentlich, ob jemand 1945 oder 1954 zur Welt gekommen ist.

Das Fehlen der zeitlichen Einbettung macht es den Texten nicht unbedingt leichter. Aus seinen ursprünglichen Zusammenhängen gerissen muss sich beispielsweise ein für eine Tageszeitung verfasster Kommentar erst einmal bewähren. Soviel vorweg: Solchermaßen auf die Probe gestellt zu werden, ist zunächst nicht das Problem der Texte. Denn Menasse stellt Gegebenheiten, Ereignisse und Zusammenhänge pointiert dar, und die Eleganz und Leichtigkeit, mit der er seine Themen häufig provokant abhandelt, bereiten großes Lesevergnügen - gerade für Menasse-Wiederholungsleser, die in dem Band viel Bekanntes wiederfinden werden. Die Schwerpunkte wechseln, die Aussagen über den Zustand Österreichs bleiben mehr oder weniger dieselben, und so liest man manchen Befund zum österreichischen Wesen auch ein zweites Mal, ein drittes Mal. Neueinsteiger werden von dieser Redundanz profitieren und nach der Lektüre ein gründlich dekonstruiertes Österreichbild vor Augen haben.

Man mag gegen Menasse einwenden, seine Art der Österreichkritik sei wahrlich nichts Neues, es ließe sich kaum etwas finden, was man nicht auch schon vor ihm und nicht bereits schärfer habe lesen können; das mag sein. Allerdings gibt es einen Bezugspunkt vor allem in den früheren der hier versammelten Texte (die, wenn auch durcheinander, die erste Hälfte des Bandes ausmachen), von welchem aus Menasse neues Terrain gewinnt: die Literatur. Hier beschreitet er nämlich nicht nur die ausgetretenen Pfade, auf denen die großen Namen wie Doderer, Bernhard und Handke ihrer nächsten Interpretation harren, sondern er widmet sich mit Nachdruck heute weniger prominenten Autoren. (Zu lesen ist beispielsweise über Gerhard Fritsch, Fritz Habeck, Hans Lebert, Ernst Lothar, Hermann Schürrer etc.) An ihnen und ihren Büchern beschreibt er, wie sich bestimmte, von ihm als österreichtypisch angesehene gesellschaftliche und politische Muster - vor allem: die möglichst umfassende und unkritische Vereinigung von Gegensätzen und Widersprüchlichkeiten, ein permanentes "Entweder-und-Oder" - in der Sprache, in den Figuren und in den Handlungen der Werke niederschlagen. Das politische Pendant zu dieser Ästhetik ist für Menasse das Modell der Sozialpartnerschaft. Menasse konzediert dabei in der Auswahl seiner Beispiele durchaus eine gewisse Beliebigkeit: "Jedes andere Beispiel wäre genauso dienlich, und jeder Leser kann das selbst versuchen."

Abseits der kritischen Literaturbetrachtung, für die auch schon bei früheren Gelegenheiten des Abdrucks bewusst keine aktuelleren Beispiele ausgewählt wurden, bemüht man sich (ist es der Autor oder die Herausgeberin Eva Schörkhuber?) in dieser Sammlung um die Herstellung einer gewissen Jetztzeitigkeit - und tut sich damit keinen Gefallen. Die dafür nötigen Änderungen belaufen sich im Wesentlichen darauf, statt "ist" "war" oder statt "jetzt" "damals" zu sagen. Kleine Änderungen, große Wirkung - denn was bedeutet das für die Texte? Soll ein Effekt von Zeitlosigkeit erzielt werden? Es gibt hier jedenfalls kein erkennbares Früher, es gibt kein Später, kein Damals, kein Jetzt. Der Verlag legt nahe, dass die Essays "die politische Entwicklung Österreichs kommentierend begleiten"; aber gerade durch die Gestaltung des Bands kann man kaum eine Entwicklung des Essayisten erkennen. Die Essays selbst sind, so erscheint es nun, gleich gültig. Sie behandeln immer wieder ähnliche Zeitabschnitte, Texte aus den frühen 90ern greifen ebenso wie die jüngsten Erzeugnisse auf die Geschichte der Monarchie und der Zwischenkriegszeit zurück, und wenn in älteren Texten, die während der Amtszeiten Kurt Waldheims und Thomas Klestils entstandenen sind, der (jetzt "damalige") österreichische Nationalratspräsident Heinz Fischer zum (nun "derzeitigen") Bundespräsidenten umetikettiert wird, beginnen auch hier die Jahre, die vergangen sind, zu verschwimmen.

Wenngleich zunächst noch zugestanden wurde, dass die Essays auch ohne explizite zeitliche Einbettung lesenswert sind, werden solche Eingriffe dann doch zum Problem. Die konkreten Zusammenhänge, Umstände und Zustände, aus denen Menasses Essays hervorgehen und die sie ihrerseits zum Thema haben, gehen an einigen Stellen verloren; und damit verlieren auch die vielfachen Wiederholungen von Beobachtungen trotz allem stilistischen Können an Charme. Gegen Ende des Bands stellt sich Ermüdung ein. Es tut sich nicht viel in der Zweiten Republik, so scheint es nach gut 400 Seiten des Buchs, auch wenn man viel darüber schreiben kann.

Doch dann ändert sich mit der Nationalratswahl 1999 die Situation in Österreich, es kommt zur schwarz-blauen "Wende", und mit ihr ändern sich auch die Befunde, die Menasse erstellt. In den jüngsten Texten (und nicht nur, wie Menasse festhält, in der politischen Realität) wird der Ton schärfer. Der Grundwortschatz fürs Österreichische, den er an Beispielen schwarz-blauer Regierungspraktiken aufstellt, nennt die Dinge ebenso pointiert beim Namen wie der Kommentar zum österreichischen Umgang mit dem Februar 1934, der, so Menasse, "nicht vergehen will". Im letzten Beitrag des Bands schließlich vergleicht er die Jubiläumsfestivitäten des Jahres 2005 mit Begräbnisfeierlichkeiten. Unter dem Titel "Wende und Ende" liefert er seine Grabrede auf Österreich (die nach der Veröffentlichung in der österreichischen Tageszeitung "Die Presse" eine wochenlange und recht lebendige Debatte nach sich zog). "Das war Österreich" - die Zweite Republik erklärt Menasse für tot und zu Grabe getragen. Ob dieses Österreich tatsächlich für tot zu erklären ist, oder ob es doch, wie es Totgesagte gerne tun, noch länger lebt, wird sich zeigen. Was auch immer geschieht, eines ist sicher: Robert Menasse wird darüber schreiben. Sich in der Zwischenzeit (wieder) mit den bisherigen Essays zu beschäftigen, ja, es lohnt sich. Aber bitte nicht anhand dieser Ausgabe.


Titelbild

Robert Menasse: Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land ohne Eigenschaften.
Herausgegeben von Eva Schörkhuber.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
464 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3518456911

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