Grundlagen der Kritik

Ein Band zur Wissenschaft im Neoliberalismus

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Neoliberalismus" ist wohl nach "Globalisierung" der am häufigsten gebrauchte Begriff, der aktuelle Trends kennzeichnen soll. Wer von Neoliberalismus spricht, stellt sich auf die Seite der Kritiker - kaum jemand bezeichnet sich als neoliberal, selbst Guido Westerwelle wollte kürzlich "neosozial" sein. Gemeint ist etwa: im Ökonomischen die Durchsetzung betriebswirtschaftlichen Denkens, nämlich die Realisierung größtmöglichen Gewinns, während die Kosten soweit wie eben durchsetzbar auf die Allgemeinheit abgeschoben werden; und im Politischen ein Staat, der nicht länger Garant sozialer Sicherheit ist. Dafür aber baut er seine Repressionsfunktionen aus, was stets noch die Zustimmung der Wirtschaftsliberalen gewann.

Diese Entwicklungen sind real, und sie sind derart unerfreulich, dass die Intervention kritischer Wissenschaftler gefragt ist. Allerdings ist die Wissenschaft selbst einem neoliberalen Umbau ausgesetzt. Die neu gestuften Studiengänge mit ihrer qua "Modularisierung" erzwungenen Verschulung und einem brutalen Zeitdiktat, die Diskussion um Studiengebühren, die staatlich gewollte Unterfinanzierung, schließlich die Pensionierung einer Generation von Hochschullehrern, von denen viele in einer besseren Zeit politisch sozialisiert wurden, erschweren einer fortschrittlichen Wissenschaft den Weg. Wenn Christina Kaindl für den Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Band zu "Kritischen Wissenschaften im Neoliberalismus" herausgibt, so ist dies ein wichtiges und begrüßenswertes Unternehmen.

Der Band ist in vier Blöcke aufgeteilt. Im ersten umreißt Torsten Bultmann die aktuellen wissenschaftspolitischen Entwicklungen, die auf eine Unterordnung der Wissenschaft unter die Kontrolle der Ökonomie hinauslaufen. Das stößt keineswegs nur auf den Widerstand von Linken - auch konservative Standesvertreter sehen ihre Positionen bedroht. Zu Recht mahnt Bultmann eine genaue Begründung an, weshalb eine von ökonomischem Druck freie Wissenschaft gesellschaftlich nützlicher ist als eine neoliberal verstümmelte; und das setzt eine Verständigung voraus, wofür man gegenwärtig kämpfen soll und nicht nur, wogegen.

Der umfangreiche zweite Block behandelt "Grundlagen", worunter "Kapitalismus - Staat - Produktionsweise - Geschlechterverhältnisse" zu verstehen sind. Wer hier einen marxistischen Ansatz vermutet, liegt richtig. Insbesondere Sebastian Herkommer begründet in seinen beiden Beiträgen die Aktualität sowohl der marxistischen Ideologie- als auch der Klassentheorie. Alex Demirovic zeigt, wie die marxistische Staatstheorie auch für die Analyse von "einer Art globalisiertem, imperialen Netzwerkstaat" fruchtbar gemacht werden kann. Morus Markard erweist grundsätzlich die Überlegenheit kritischer Sozialwissenschaft über einen pseudopragmatischen Ansatz, der lediglich auf Optimierung innerhalb des Bestehenden zielt. Frigga Haug belegt, wie bereits bei Marx und Engels Geschlechterverhältnisse nicht lediglich als Nebenwiderspruch zu Klassenverhältnissen gedacht sind, wie diese Erkenntnisse jedoch auch schon bei ihnen beiseite rücken und wie sie heute wieder fruchtbar gemacht werden können. Wolfgang Fritz Haug beleuchtet, inwieweit die Computerisierung seit den 70er Jahren eine neue "epochale Leitproduktivkraft" bedeutet und so ein Spezifikum des gegenwärtigen Kapitalismus ist, das ihn von früheren Entwicklungsstadien abhebt.

Ein dritter Block ist der "Funktion von Utopie für kritisches Denken" gewidmet. Es versteht sich von selbst, dass die Beiträger sich der gängigen Diffamierung von Utopie als Vorstadium totalitären Mordens verweigern. Im Gegenteil ist für sie Utopie die Voraussetzung dafür, nicht dem Bestehenden kritiklos zuzuarbeiten, sondern aus der Perspektive einer Zielvorstellung den gegenwärtigen Mangel zu benennen.

Der wieder umfangreichere, abschließende Teil ist betitelt: "Ideologien konkret". Hier zeigen die Beiträger, wie falsche Vorstellungen die neoliberale Offensive flankieren. Christine Morgenstern weist nach, wie Rassismus scheinbar biologistische Vorstellungswelten hinter sich lässt und "Kultur" zum neuen Differenzmerkmal wird, das nicht weniger ausschließend wirkt. Christina Kaindl zeigt, dass rechtsextremistisches Ideengut in Zeiten postfordistischer Verunsicherung trotz aller Idiotie eine stabilisierende Wirkung haben kann. Wie ein neuer Antisemitismus in perfidem Wechselspiel von Konkretion und Abstraktion gegenwärtige Kapitalverhältnisse scheinbar erklärt, legt Barbara Fried dar. Die Rolle des Geschichtsrevisionismus - der Leugnung oder Relativierung der Nazi-Verbrechen - bis in die Gegenwart macht Gerhard Wolf deutlich, während Gerd Wiegel einen konzisen Überblick über die Historiografie zum deutschen Faschismus und die nationale Funktion jüngster Diskussionen gibt.

So bietet der Band einen umfassenden Zugang zu Ansätzen und Gegenständen einer kritischen Forschung und löst das Versprechen einer Einführung ein, das in seinem Untertitel gegeben ist. Die übersichtliche Anordnung bedeutet indessen auch ein Manko: Allzu getrennt bleiben die Aspekte. Abgesehen von Frigga und Fritz Wolfgang Haug berühren die Autoren, die sich um die marxistischen Grundlagen kümmern, kaum die Frage, inwieweit der Neoliberalismus eine besondere Entwicklungsstufe des Kapitalismus darstellt. Umgekehrt finden die in diesem Teil entwickelten Kategorien kaum Anwendung im vierten Teil, der der Konkretion gewidmet ist. Interessant ist, wie "Ideologien konkret" auf Probleme des Rassismus und Nationalismus zentriert ist, auch wenn ökonomische Ursachen dieser Ausschlussmechanismen durchaus benannt sind. Offensichtlich fand sich kein Autor, der sich mit aktuellen wirtschaftswissenschaftlichen Glaubenssätzen, ihrer Entstehung und ihren Wirkungen, auseinander setzen mochte.

So getrennt wie das grundlegende Instrumentarium von seiner Anwendung ist auch der wissenschaftspolitische Aufsatz Bultmanns vom Rest. Die Frage, ob und wie die notwendigen Analysen künftig noch wenigstens zum Teil innerhalb des staatlich subventionierten Wissenschaftsbetriebs geleistet werden und mittels universitärer Lehre eine wenn auch beschränkte Wirkung entfalten können, wird von den anderen Beiträgern gar nicht erst gestellt. Vermutlich würde die Antwort auch zu deprimierend ausfallen. Schon die Berufsverbotspolitik der 70er Jahre hat an den wenigen Instituten, an denen Marxisten einmal stark waren, Mehrheiten geschaffen, die eine grundsätzlich kritische Wissenschaft verhindern können. Ein Nachwuchs hat sich darum kaum etablieren können, der verstärkte Einsatz einer ökonomischen Steuerung von Wissenschaft tut ein Übriges. Wie dennoch kritische Wissenschaften im Neoliberalismus bestehen könnten, wäre einen eigenen Band wert.

Das prekäre Verhältnis von Grundlagen und ihrer Anwendung, von institutionellen Rahmenbedingungen und Erkenntnis entwertet den Band kaum. Was hier über das Funktionieren der gegenwärtigen Gesellschaft, genauer: ihre Fehlfunktionen zusammengetragen ist, übersteigt das gängige Niveau wissenschaftlicher oder feuilletonistischer Reflexionen bei weitem. Die genannten Desiderata zeigen nur, wie viel an wissenschaftlicher und politischer Auseinandersetzung es noch zu leisten gilt, bis der Neoliberalismus besiegt ist.


Titelbild

Christina Kaindl (Hg.): Kritische Wissenschaften im Neoliberalismus.
BdWi-Verlag beim Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen u. Wissenschaftler e.V., Marburg 2005.
248 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3924684944

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