Die wissenschaftliche Emancipation der Frau

Schlüsselwerke der Geschlechterforschung kenntnisreich interpretiert und kommentiert

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hat eine junge wissenschaftliche Disziplin eine Reihe kanonischer Schlüsselwerke hervorgebracht, zeugt dies gemeinhin von einer gewissen Arriviertheit, die sie ihr wissenschaftliches Dasein nicht länger im Limbus zwischen den Fakultäten fristen lässt. Doch stellt sich die Frage, ob dies auch für ein inter- und transdisziplinäres Unternehmen wie die Geschlechterforschung gilt, die selbst gar keine neue wissenschaftliche Disziplin sein will und deren Schlüsselwerke nicht nur verschiedenen herkömmlichen Fachdisziplinen zuzuordnen sind, sondern deren bisherige Gewissheiten dezidiert in Frage stellen.

Für die inzwischen erlangte Arriviertheit der Geschlechterforschung spricht einiges, nicht zuletzt die noch immer wachsende Zahl einschlägiger Einrichtungen, auch an deutschen Universitäten. Es gibt kaum noch eine akademische Bildungseinrichtung, die sich heute nicht mit einem Zentrum für Geschlechterforschung oder Gender Studies schmückt. Andererseits jedoch darf nicht übersehen werden, dass der wissenschaftliche Mainstream die Erkenntnisse der - wenn man so will - fächerübergreifenden Disziplin noch immer weitgehend ignoriert. Des Interesses einer erklecklichen Anzahl Studierender etlicher, insbesondere kulturwissenschaftlicher Fachrichtungen können die Gender-ForscherInnen hingegen gewiss sein.

Beiden, Studierenden wie ForscherInnen, reichen Martina Löw und Bettina Mathes nun ein Buch an die Hand, das nicht nur zuverlässig über eine Reihe der wichtigsten Publikationen der Geschlechterforschung informiert, sondern sie ebenso kenntnisreich wie kritisch befragt. Die Anordnung der Beiträge folgt der Chronologie des Erscheinens der vorgestellten Werke, wodurch die von feministischer Theorie und Geschlechterforschung in nunmehr über 100 Jahren erzielten methodischen und inhaltlichen Fortschritte deutlich hervortreten.

Die Herausgeberinnen haben eine neunzehn Titel umfassende Auswahl getroffen, welche die Vielfalt der Geschlechterforschung betont. Fast alle behandelten Werke sind während oder nach der Zweiten Welle der Frauenbewegung erschienen. Darunter Carol Gilligans "In a Different Voice" (1982 dt. Die andere Stimme 1984), Christina von Brauns "Nicht ich. Lüge, Logik, Libido") (1985) und Donna Haraways in Deutschland erschienener Sammelband "Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen" (1995). Auch hinsichtlich der anderen Titel ist die Zusammenstellung insgesamt als gelungen zu bezeichnen. Dennoch bleiben einige Wünsche offen. Dass Theweleits hierzulande zeitweilig zum Kultbuch avanciertes Werk "Männerphantasien" (1977/78) nicht berücksichtigt werden konnte, bedauern die Herausgeberinnen selbst. Schmerzlich bemerkbar macht sich darüber hinaus die Absenz von Thomas Laqueurs 1996 unter dem Titel "Making Sex" (dt. Auf den Leib geschrieben 1996) veröffentlichten Untersuchung zur "Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud" oder von Kate Millets bahnbrechender und weit mehr als nur literaturwissenschaftlicher Arbeit über "Sexual Politics" (1969, dt. Sexus und Herrschaft 1971). Auch einige der wichtigsten Aufsätze bleiben unberücksichtigt wie etwa Laura Mulveys "Visual Pleasure and Narrative Cinema" (1975, dt. Visuelle Lust und narratives Kino 1980) und Joan Scotts "Gender: A Useful Category of Historical Analyses" ( 1986, dt. Gender: eine nützliche Kategorie der historischen Analyse 1994).

Solche Lücken sind zwar bedauerlich, doch können sie den Nutzen des vorliegenden Buches nicht wesentlich mindern. Zu wertvoll sind die Arbeiten zu den aufgenommenen Titeln. Das gilt auch dann, wenn es sich um ein eher unbekanntes Werk handelt wie Gertrud Kochs "Was ich erbeute sind Bilder" (1989).

Ein gravierender Fehlgriff darf allerdings nicht unerwähnt bleiben. Auch mit viel gutem Willen ist nicht nachzuvollziehen, wieso der von Janine Chasseguet-Smirgel herausgegebene Sammelband "La sexualité feminine" (dt. Psychoanalyse der weiblichen Sexualität 1974) aufgenommen wurde, in dem Chasseguet-Smirgel noch 1964 einen "angeborenen Wunsch nach Mutterschaft" sowie eine "dem Mädchen immanente Bestimmung zur Mutterschaft" und einen "fundamentalen weiblichen Wunsch nach einem Kind" behauptet, um schließlich zu der These zu gelangen, dass der Vater-Tochter-Inzest nur "selten traumatische Spuren" hinterlasse, weil "wahre[r] Inzest" überhaupt nur mit der Mutter möglich sei.

Zwar haben die Autorinnen für den Aufbau der Beiträge die gleichen formalen Vorgaben erhalten, denen zufolge zunächst der Inhalt des behandelten Buches zusammenzufassen sei. Des weiteren sollten die Artikel seine zeitgenössische Rezeption umreißen, sein diskursives Umfeld ausloten und seine gegenwärtige Bedeutung herausarbeiten. Dennoch zeigen sich "deutlich unterschiedliche Herangehensweisen", wie die Herausgeberinnen bemerken. Wohl wahr! Dabei ist nicht allen Autorinnen die Gewichtung der einzelnen Teile geglückt. Von Edith Glaser erfährt man zwar einiges über Hedwig Dohms Leben, über die Schrift, auf die Dohms Publikation "Die wissenschaftliche Emancipation der Frau" (1874) antwortet sowie über die zeitgenössische und die gegenwärtige Rezeption, kaum jedoch etwas über den Inhalt und die Argumentation des vorgestellten Buches selbst. Zudem krankt der Beitrag daran, dass Glaser die Lebensgeschichte der Icherzählerin aus Dohms Roman "Schicksale einer Seele" (1899) eins zu eins als autobiografischen Bericht der Autorin liest.

Ganz anders Ursula Konnertz, deren Beitrag Simone de Beauvoirs "Le Deuxième Sexe" (1949, dt. Das andere Geschlecht 1952), dem "berühmtesten Text" der feministischen Theorie, gilt. In erfreulicher Ausführlichkeit und mit profunden Kenntnissen gerüstet stellt die Mitherausgeberin der feministischen Zeitschrift "Die Philosophin" de Beauvoirs "Grundlagen-, wenn nicht gar Gründungstext" der Geschlechterforschung vor und wird so der mit dem Titel des vorliegenden Bandes geweckten Erwartungshaltung weit eher gerecht als Glaser, ohne dabei allerdings den Diskurszusammenhang und die Rezeption des vorgestellten Buchs zu vernachlässigen.

Gerburg Treusch-Dieter hingegen mag sich gar nicht an die Vorgaben des Herausgeberinnen-Duos halten. Kurz und bündig erklärt sie, ihr Text über Luce Irigarays "Speculum de l'autre femme" (1974, dt. Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts 1980) gehe weder auf die Biografie von Irigaray ein noch auf die Rezeption des Buches, sondern beschränke sich allein darauf, Irigarays Werk "auf immanente Weise" darzustellen. Dies allerdings gelingt ihr glänzend, wenngleich man sich vielleicht einen etwas kritischeren Blick auf Irigarays Buch gewünscht hätte.

Natürlich darf in einer solchen Zusammenstellung die bahnbrechende gender-theoretische Publikation der 1990er Jahre nicht fehlen: Judith Butlers "Gender Trouble" (1991, dt. Das Unbehagen der Geschlechter 1991). Heike Jensen stellt das Buch vor. Aufgrund der chronologischen Anordnung wird zuvor jedoch das wirkungsmächtigste Werk einer ihrer schärfsten deutschsprachigen Kritikerinnen behandelt: Barbara Dudens "Geschichte unter der Haut" (1987). Karen Nolte, die den Artikel zu Dudens Arbeit verfasst hat, legt auch deren spätere Butler-Kritik dar, die sie weitgehend teilt. Interessanter ist jedoch, dass sie eine bislang kaum gesehene theoretische Nähe zwischen Duden und Butler ausmacht. Nur die psychologisierende Vermutung, dass Duden Butler wegen eben dieser Nähe so scharf angreife, hätte sie gerne unterlassen können.

Auch Jensen spart nicht mit Kritik am gender-theoretischen shooting star der 1990er. "Insgesamt gesehen" sei Butlers Hoffnung, "den Feminismus durch Dekonstruktion zukunftsfähig zu machen", "nur bedingt aufgegangen". Zwar habe sich ihr semiotischer Ansatz als "äußerst produktiv" erwiesen, die von ihr propagierte Strategie zur Subversion der Geschlechterverhältnisse und -rollen, komme jedoch über ein "Glaubensbekenntnis" nicht hinaus. "[D]etaillierter zu erörtern, was Butler in diesem Buch leistet, welches die gefeierten und die marginalisierten Ideen ihres Buches sind, und welche zentralen Kritikpunkte es an dieser Arbeit gibt", dieses Versprechen einzulösen reicht der knapp elf Seiten umfassende Artikel natürlich nicht aus. So konzentriert sich Jensen hinsichtlich der Rezeption dann auch auf die Bedeutung des Buchs für die "theoretischen und strategisch-politischen Grundlagen" des Feminismus. Doch, was sie hierzu sagt, ist interessant genug, um sich zu wünschen, die Autorin würde ihre Sicht auf Butler einmal ausführlicher entfalten, vielleicht sogar in einer kleinen Monographie.

Mag man auch nicht ganz uneingeschränkt mit der Auswahl der behandelten Werke zufrieden sein, so fällt das Fazit doch eindeutig aus: Mit den "Schlüsselwerken der Geschlechterforschung" haben die Herausgeberinnen ein Buch vorgelegt, das in den Regalen angehender Gender-TheoretikerInnen ebenso wenig fehlen sollte, wie in denjenigen ihrer heute schon renommierten ZunftgenossInnen.


Titelbild

Martina Löw (Hg.): Schlüsselwerke der Geschlechterforschung.
Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2005.
304 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-10: 3531138863

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