A la recherche du sens perdu

Ingeborg Ackermann 'erschließt' Paul Celans "EINEM, DER VOR DER TÜR STAND"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit 1957/58 kam es für Paul Celan zu einer (Wieder-)Annäherung an das Judentum, die sich nicht nur in Buchkäufen und Lektüren, sondern als emphatische und höchst komplexe Ortsbestimmung in dem zwischen 1959 und 1963 entstandenem Gedichtband "Die Niemandsrose" niederschlug. 1969 hat Celan darauf hingewiesen, dass sein Judentum weniger "thematisch" als "pneumatisch" zu verstehen sei, womit er sich - in Anlehnung an eine diesbezügliche Wendung Franz Rosenzweigs - auf "einen geistigen Zusammenhang" bezieht, "der über das seelische und leibliche Leben der einzelnen Menschen, ja selbst über ihre Lebenszeit hinausreicht und die einzelnen zu einer Gemeinschaft verbindet". Nimmt man den Anfang von Celans berühmten "Psalm" - "Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, / niemand bespricht unsern Staub. / Niemand" - könnte man davon ausgehen, dass der Ausgangspunkt des Dichters diejenige Version jüdischer Theologie ist, die ein Wirklichwerden Gottes erst in der menschlichen Tat vollzogen sieht, was bei Celan jedoch negativ pointiert wird: Im Zeichen der Shoah ist die konnektive Identität der Juden unmöglich geworden: "Ein Nichts / waren wir, sind wir, werden / wir bleiben". Und Dichtung, Gesang, ist nur als Par-Odie möglich, als "die Nichts-, / die / Niemandsrose".

An diesem Punkt setzt Ingeborg Ackermanns Deutung eines - trotz kontroverser Deutungsansätze in der Forschung - bislang nicht voll erschlossenen Textes aus der "Niemandsrose" an; die Verfasserin analysiert das Gedicht "EINEM, DER VOR DER TÜR STAND" unter Rekurs auf die von Celan als unentbehrlich erachtete jüdische Mystik und den von Martin Buber revitalisierten Chassidismus. Ackermann erkennt hier "einen Deutungsrahmen, in den sich jedes Detail dieses schwer zugänglichen Textes überzeugend einfügt". Darüber hinaus ist sie bestrebt zu zeigen, dass der Text eine Bündelung von Motiven, Themen und Strukturzügen aufweist, die auch für den gesamten Zyklus der "Niemandsrose" konstitutiv sind. Damit greift die Verfasserin einen Ansatz Albrecht Schönes auf, der in seiner detaillierten Deutung des Gedichts ("Dichtung als verborgene Theologie. Versuch einer Exegese von Paul Celans 'Einem, der vor der Tür stand', Göttingen 2000) unumwunden forderte: "Will man sich dadurch nicht von vornherein zu einer destruktiven Lektüre entmutigen lassen, welche die Stimme des Autors im namenlosen Diskursgemurmel untergehen läßt und einen von ihm intendierten übergreifenden Sinnzusammenhang des Gedichts verloren gäbe, setzt man vielmehr (versuchsweise) eine 'Sinn-Einheit' voraus, die einem solchen Text als einer sprachlichen Einheit zukommt, dann wird man bei den vielstelligen Konnotationen je einzelner Worte und Wendungen abwägen müssen, wie sie sich zu einem Gedichtganzen fügen und welchen 'Sinn-Halt' sie in dessen Kohärenzgefüge finden würden".

Auf dieser in der Celan-Forschung bedauerlicherweise nach wie vor präsenten Recherche du sens perdu befindet sich auch Ingeborg Ackermann, wenn sie das "als weitgehend enigmatisch, ja hermetisch" geltende Gedicht - unter Hinzuziehung "aufschließender Hinweise" Celans bezüglich seiner (Wieder-)Annäherung an jüdisches Denken - deutet, und zwar "als eine für das lyrische Ich wie den Autor zentrale Spiegelung existentieller Befindlichkeit zwischen traditionsbezogener Vergangenheit mit ihrem Anspruch, ihren Wurzeln und einer Verfaßtheit des gegenwärtigen Zustandes, der nach neuer Orientierung sucht, nach Aufbruch aus dieser Rückgebundenheit zu einem Ort, der sich der Mitteilbarkeit entzieht, der aber anzugrenzen scheint an ekstatische Erfahrungen, wie sie aus dem Bereich chassidisch-mystischer Vorstellungen vertraut sind". Gegen Ende ihrer Analyse vergleicht die Verfasserin das Gedicht aus der "Niemandsrose" mit einem zwischen Dezember 1967 und September 1968 entstandenen Vierzeiler aus dem Band "Schneepart" ("DIE NACHZUSTOTTERNDE WELT, / bei der ich zu Gast / gewesen sein werde, ein Name, / herabgeschwitzt von den Mauer, / an der eine Wunde hochleckt."), der in starkem Kontrast zu "EINEM, DER VOR DER TÜR STAND" "keinerlei positiven Impuls" mehr zulasse. Während im Titelgedicht der Studie "noch alles im leidenschaftlichen Impuls des Aufbegehrens" gewesen sei, "des Aufbruchs zu dem 'was gilt', auf Erwartung ausgerichtet, so zerschellt hier, an dieser [auf eine Hinrichtung verweisende] 'Mauer', jegliche Hoffnung. In eigentümlicher Zeitenverschränkung wird hier das Schon-Vergangensein der eigenen Existenz in einer Zukunft antizipiert, auf die aber bereits wieder zurückgeblickt wird. In der präsentischen Formulierung, in die das Gedicht mündet, bleibt dieses mit dem Namen Paul Celan verbundene Dasein unter die Signatur einer Wunde gestellt, die 'heil-los' ist. Sie bleibt auch in der Zukunft gegenwärtig".

So einleuchtend Ackermanns Deutung des "Schneepart"-Gedichts ist, wenn sie die erschreckende Bilanz des lyrischen Ichs im Futur II unter die "Signatur einer Wunde" stellt, so kurzsichtig gerät die Deutung des Textes aus der "Niemandsrose" und auch des gesamten Zyklus', verkennt die Verfasserin doch, dass spätestens mit "Sprachgitter", also mit der Entfaltung sprachlicher Gitterstrukturen das kristalline Moment der Sprache und dessen Bezug zum Tod vorbereitet und mit dem Bild des Gitters der Wechsel von Grenzziehung und Leerstelle eröffnet wird. Am deutlichsten ist aber "Die Niemandsrose" durch eine solche syntaktische und graphische Darstellung der Zäsur-Erfahrung gekennzeichnet. Damit stellt dieser Band in Bezug auf die in den Texten Celans zweifellos zu beobachtende 'Poetik der Wunde' einen entscheidenden Sammelpunkt dar, indem hier zum einen in Verlängerung der frühen Gedichtbände der direkte thematische Verweis auf geschichtliche Momente beibehalten wird, gleichzeitig aber auch die Verschiebung zu grafischen Elementen die Bedeutung von Rhythmus, Atem, Unterbrechung, Zäsur, Beschneidung deutlich zu werden beginnt. "Die Niemandsrose" fungiert im Gesamtwerk als eine Art Doppelpunkt, der die bis zu ihm gegebenen Bestimmungen versammelt und auf der anderen Seite eine Konsequenz dieser Bestimmungen erwarten lässt.

Diesen Umbruch betont auch der von Jürgen Lehmann herausgegebene "Kommentarband zur Niemandsrose" (Heidelberg 1997): "Im Rahmen einer Auffassung von Dichtung, die in hohem Maße von Themen wie Atem und Verstummen, Abbrechen und Versagen der Sprache, Reduktion des Sprechens bis hin zum Schweigen etc. geprägt ist [...], erhalten Punkte, Doppelpunkte, Gedankenstriche, Zäsuren und andere Leerstellen bis hin zur durch Punkte markierten Leerzeile fast immer semantische Valenz". Diese 'semantische Valenz' bleibt Ingeborg Ackermann in ihrer Deutung des Gedichts nahezu vollkommen verschlossen, wie sonst ist es zu erklären, dass in der zu einer solchen Deutung Anlass gebenden Strophe "Diesem / beschneide das Wort, / diesem / schreib das lebendige / Nichts ins Gemüt, / diesem / spreize die zwei / Krüppelfinger zum heil- / bringenden Spruch. / Diesem." das evidente poetologische Zeichen der Beschneidung nicht wahrgenommen, stattdessen nur versucht wird, den jüdisch-theologischen Kontext zu eruieren. Die virulente Frage nach der noch verbleibenden Möglichkeit der Mit-Teilung im Nicht-Sprachlichen, die von dem Text aufgeworfen wird, entgeht der Aufmerksamkeit Ackermanns. Zwar wird deutlich, dass die Sprache von Celan nicht mehr als gesicherter Informationsaustausch zwischen zwei vorsprachlich bereits konstituierten Subjekten gedacht wird, gleichwohl bedeutet diese Destabilisierung von Semantik und Subjekt nicht notwendig den vollkommenen Abbruch jeder Begegnung. Gerade durch den Verweis auf den eigenen, sprachlich nicht mehr einzuholenden Abgrund der 'Wunde des Nichts' gelingt die Gabe an das Du.

Das schneidende Schweigen hinterlässt seine Spuren am Körper. Die 'Engführung' von Ich und Sprache zeigt sich bereits ab der "Niemandsrose", verstärkt dann jedoch in den späten Gedichten, in der verbleibenden Gemeinsamkeit von Wort und Mensch: die Verletzung von Textkörper und Menschenleib. Die schmerzhafte Verbindung beschreibt keinen Ist-Zustand einer einmaligen Verletzung, sondern in der Wendung der "zwei Krüppelfinger" wird die Permanenz unterstrichen. Diese bezeugen einen inversiven Schreibvorgang, der nichts mehr aus sich herausstellt, herstellt, sondern den Text und das ihm mitgegebene Ich stetig verwundet und immer stärker reduziert, ver-krüppelt. Auch die durch die Zäsur der Zeile evozierte Beschneidung des "heil- / bringenden Spruch[s]" deutet darauf hin, dass der Rundschnitt, mit dem das Wort beschnitten wird, Sprache und Sprechenden gleichermaßen verstümmelt. Zu diesen Ergebnissen, das sei als Warnschild dieser Gegen-Rede umgehängt, kommt man allerdings nur, wenn man bereit ist, den hermeneutischen circulus vitiosus der gleichzeitigen Annahme und Suche einer 'Sinn-Einheit' zu verlassen. Das ist allerdings weder in Ingeborg Ackermanns Deutung noch in der von ihr wiederholt zitierten von Albrecht Schöne der Fall.


Titelbild

Ingeborg Ackermann: Am Rande seiner selbst. Zu Paul Celan: Einem, der vor der Tür stand,...
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
116 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3631517998

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