Das archaische Raunen der Mütter

Yeo-Mae Je untersucht die "Manifestationen des Weiblichen in der Lyrik Paul Celans"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 21. Oktober 1959 schreibt Paul Celan das Gedicht "Wolfsbohne", das nicht weniger als 21mal die Mutter als Adressatin nennt und die Frage stellt: "Mutter. / Mutter, wessen Hand hab ich gedrückt, / da ich mit deinen Worten ging nach / Deutschland." Zutiefst verstört wird konstatiert: "Mutter, sie schweigen. / Mutter, sie dulden es, daß / die Niedertracht mich verleumdet. / Mutter, keiner / fällt den Mördern ins Wort." Die Entstehung des Gedichts steht in Zusammenhang mit der Rezension des Bands "Sprachgitter" im "Berliner Tagesspiegel" vom 11. Oktober des Jahres durch Günter Blöcker, in der Celans Gedichte wie die "Todesfuge" oder "Engführung" als "Exerzitien auf dem Notenpapier", fern von jeglichem Wirklichkeitsbezug bezeichnet werden, was den Dichter tief verletzte und verdeutlichte, dass die meisten Interpreten den Anspruch vieler Gedichte Celans, Grabmal für die 1942/43 in dem von Deutschen befehligten Lager Michailowka ermordeten Eltern zu sein, nicht verstanden. Auch wenn die genauen Sterbedaten der Eltern unbekannt sind, lässt sich doch sagen, dass mit ihnen das entscheidende "Datum" der Dichtung Celans gesetzt ist - symbolisch aufgehoben in jenem "20. Jänner", von dem die Büchner-Preisrede "Der Meridian" spricht: "Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein '20. Jänner' eingeschrieben bleibt? Vielleicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, gerade dies: daß hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben? - Aber schreiben wir uns nicht alle von solchen Daten her? Und welchen Daten schreiben wir uns zu?". Kurz zuvor betont Celan, überlegend, welchen "Akzent" seine Dichtung setze, dies könne weder der "Gravis des Historischen" noch der "Zirkumflex [...] des Ewigen" sein: "Ich setze - mir bleibt keine andere Wahl -, ich setze den Akut."

Celan geht es in seiner Darmstädter Rede um eine temporale und lokale Bestimmung von gegenwärtiger Dichtung schlechthin, und das verdeckt genannte Datum des 20. Januar 1942, an dem auf der Wannsee-Konferenz der Massenmord an den Juden strategisch durchgeplant wurde, ist als Signal für jedwede Literatur im Zeichen der Shoah zu verstehen, die nicht aus der Zeit fallen will. So ist Celans Schreiben und Leben seit dem Winter 1942/43 'wirklichkeitswund' und 'Wirklichkeit suchend', als er die Nachricht von der Ermordung seiner Eltern erhielt. Diese traumatische, nie zu überwindende Erfahrung ist seinen Texten eingeschrieben. In seiner Ansprache vereinigen sich zwei Momente, die zusammen den bleibenden "Akut" von Celans Texten bilden: die kaum je nachlassende Trauer vor allem um die geliebte Mutter und die zeitweise gelebte und immer wieder poetisch imaginierte Vereinigung mit allen Juden, den toten wie den lebenden. Die seither alle Interpretationen durchziehende Frage lautet daher, wie 'Ein- und Umschrift' des Erlebten in die Gedichttexte hinein vollzogen sind. Mit der Ermordung der Eltern war die geliebte Mutter-Sprache zur Mörder-Sprache mutiert, und es gab nicht nur einen Mörder, sondern ein ganzes Volk potentieller Mörder, das diese deutsche Sprache sprach und dem sie, bei seiner Meisterschaft im Töten, als nützliches Werkzeug diente. So fragt sich Celan bereits am Ende des vermutlich 1944 entstandenen Gedichts "Nähe der Gräber", das schon eingangs die Mutter explizit anspricht: "Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim, / den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?".

Nachdem bereits zwei seiner frühesten Gedichte "Muttertags-Gedichte" waren, sind einige der ergreifendsten Gedichte Celans aus den Jahren 1943 bis 1946, solche, die die ermordete Mutter unverhüllt ansprechen oder nennen: "Winter [Es fällt nun, Mutter, Schnee, in der Ukraine]", "Nähe der Gräber", "Schwarze Flocken [Mutter]", "Espenbaum". In den nachfolgenden Jahren 1948 bis 1959 entstehen unter anderen "Die Hand voller Stunden", "So bist du denn geworden", "Der Reisekamerad", "Sie kämmt ihr Haar", "Vor einer Kerze" und "Wolfsbohne". Schon "Schwarze Flocken", vermutlich um die Jahreswende 1942/43 entstanden und dem Anschein nach in der Hauptstrophe einen Brief der gequälten Mutter aus dem ukrainischen Winter wiedergebend, erhält eine evident poetologische Dimension. Der letzte Vers "Kam mir die Träne. Webt ich das Tüchlein", benennt den Fluss der Tränen als 'Grund', als Voraussetzung von Dichtung im Zeichen der Shoah. Nur das "Tüchlein", das hieraus gewoben, eine Textur, die aus diesem 'Grund' hervorgegangen ist, hat ihre Legitimation vor der Shoah. Diese nach 1945 nicht mehr zu hintergehende conditio sine qua non der Literatur, im Trauern, im Gedenken an die Toten schreibend verankert zu sein, hat Celan später wieder und wieder evoziert, so in dem Gedicht "Engführung" (1958), in dem es - echohaft wiederholt - heißt: "Zum / Aug geh, zum feuchten. / Zum / Auge geh, / zum feuchten -".

Auch wenn die 'Ein-Schrift' des Schmerzes um den Tod der geliebten Mutter in die Textur der Gedichte Celans immer wieder pointiert wurde, gab es bisher keine Anstrengungen, eine Kontextualisierung des Celan`schen 'Mutter-Diskurses' vorzunehmen. Einen Schritt in diese Richtung unternimmt Yeo-Mae Je in ihrer Untersuchung der "Manifestationsformen des Weiblichen in der Lyrik Paul Celans". Ausgehend von den Spuren der "Mutterrecht[s]"-Schrift Johann Jakob Bachofens und deren "virulenten Theorien des Weiblichen", entdeckt Je einen "neuen Celan". Die 'verdeckte' Utopie seiner 'Dichtung nach Auschwitz' greife hinter den katastrophischen Bereich des Menschlichen und der Geschichte zurück, "um biologisch-biosophische Naturkonzepte und eine darin begründete Idee des Lebendigen und seines Aprioris der Maternalität zu entwerfen". Die Maternalität werde von Celan emphatisch als Ort der Herkunft und zugleich sentimentalisch als utopisches Ziel aufgefasst und damit als einzig tragfähiges Fundament möglicher Humanität angesehen. Die Suche nach dem Ursprung führe ihn zur Frühgeschichte der Menschheit, bei der das Weiblich-Mütterliche das Weltbild determiniert habe. Aufgrund der Tatsache, dass die Mutter, wörtlich genommen, der Ursprung des Menschen und die Mutter-Religion ursprünglicher als die Vater-Religion sei, berufe sich Celan auf die weiblich-mütterliche Welt. Schuldig bleibt uns die Verfasserin jedoch eine Erklärung darüber, wie eine 'Ein-Schrift' der "weiblich-mütterlichen Welt" in die Gedichte Celans mit dessen in den Jahren 1958 bis 1963 zu beobachtender "Engführung" von Erfahrungen des 'Deutschen' und des 'Jüdischen' vereinbar ist.

Seit 1957/58 kommt es zu einer (Wieder-)Annäherung an das Judentum - das bekanntlich nun gerade keine "Mutter-Religion" ist -, die sich nicht nur in Buchkäufen und Lektüren, sondern als emphatische und höchst komplexe Ortsbestimmung in dem zwischen 1959 und 1963 entstehenden Gedichtband "Die Niemandsrose" niederschlägt. 1969 hat Celan darauf hingewiesen, dass sein Judentum weniger "thematisch" als "pneumatisch" zu verstehen sei, womit er sich - in Anlehnung an eine diesbezügliche Wendung Franz Rosenzweigs - auf "einen geistigen Zusammenhang" bezieht, "der über das seelische und leibliche Leben der einzelnen Menschen, ja selbst über ihre Lebenszeit hinausreicht und die einzelnen zu einer Gemeinschaft verbindet". Nimmt man den Anfang von Celans berühmten "Psalm" - "Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, / niemand bespricht unsern Staub. / Niemand" - könnte man davon ausgehen, dass der Ausgangspunkt des Dichters diejenige Version jüdischer Theologie ist, die ein Wirklichwerden Gottes erst in der menschlichen Tat vollzogen sieht, was bei Celan jedoch negativ pointiert wird: Im Zeichen der Shoah ist die konnektive Identität der Juden unmöglich geworden: "Ein Nichts / waren wir, sind wir, werden / wir bleiben". Und Dichtung, Gesang, ist nur als Par-Odie möglich, als "die Nichts-, / die / Niemandsrose" - eine Par-Odie, die aber stets im Diskursrahmen des Judentums stattfindet und keineswegs auf einen "Archetypus des Weiblichen" regrediert.

Diese abenteuerliche Konklusion Yeo-Mae Jes wird nur noch von nachfolgender übertroffen, die den Texten Celans nicht nur die Zugehörigkeit zur literarischen Moderne abspricht, sondern sie explizit auch noch in archaische Gefilde transponiert: "Die antimetaphysische Vorstellung, die sich in seiner Dichtung konstituiert, beruht also nicht auf der Nach-Metaphysik, sondern auf der Vor-Metaphysik der matriarchalen Frühgeschichte". Was letztlich in dieser 'lückenlosen' Beweiskette der angeblich vor-metaphysischen Ausrichtung der Texte Celans noch fehlten, wäre der 'Nachweis', dass der Dichter selbstredend niemals Heidegger oder Kafka gelesen, in den 60er Jahren weder Blanchot noch Jabès oder Derrida kennen gelernt und beeinflusst hat. Stattdessen verkauft uns Yeo-Mae Je, dass die matriarchale Welt bei Celan "sowohl geistesgeschichtlich als auch dichtungstheoretisch eine zentrale Stellung" übernehme. Die Annahme der Verfasserin, Celans Rekurs auf seine tote Mutter stehe für den Archetypus der 'Mutter' insgesamt, lässt dabei unberücksichtigt, dass der Dichter nach Celans Auffassung in erster Linie seiner eigenen "Daten" eingedenk sein solle. Die Wunde Auschwitz in einem Sammel-Diskurs des "archetypisch Weiblichen", das "im Gegensatz zum Männlich-Geistigen durch die Stofflichkeit gekennzeichnet" werde, zum Verschwinden zu bringen, wird den Gedichten sicherlich nicht gerecht. Die Texte Celans wollen als ganz und gar gegenwärtige, "in die Zeit hinein stehende" gelesen werden; "Ursprungsdunkelheit" und "Tellurismus" vermag der Rezensent in ihnen jedenfalls nirgends zu erkennen.


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Yeo-Mae Je: Dichtung als Heimkehr. Manifestationsformen des Weiblichen in der Lyrik Paul Celans.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
250 Seiten, 45,50 EUR.
ISBN-10: 3631526156

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