Massenpsychologische Götterdämmerung

Guido Hiß' Studie über das Theater als Gesamtkunstwerk von 1800 bis 2000

Von Peter MachauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Machauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es wäre sonst ganz unmöglich, daß als Frucht von all meinen Darstellungen endlich diese unglückliche "Sonderkunst" und "Gesamtkunst" herausgekommen wäre." (Richard Wagner an Franz Liszt, 18. August 1853)

Mit seiner jüngsten Monografie "Synthetische Visionen" beschäftigt sich Guido Hiß, Professor für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, gerade mit jenem Terminus, den der bekannteste Propagandist einer synthetischen Utopie zunächst geprägt, später jedoch entschieden abgelehnt hatte: Richard Wagner. Allein Hiß begnügt sich in seiner Betrachtung des "Theaters als Gesamtkunstwerk" keineswegs mit einer begrifflichen Leerformel, die gerade darum, weil sie vieles zu fassen meint, nur wenig aussagt.

Seine neueste Studie knüpft an frühere Schriften an, die sich synthetischen Phänomenen im Theater systematisch näherten, insbesondere mit Blick auf eine Theorie vieldimensionaler Wahrnehmung. Hier allerdings wird dieses "korrespondenztheoretische" Interesse ins Historische gewendet. In "Synthetische Visionen" geht es Hiss vornehmlich um eine philosophisch inspirierte Theatergeschichtsschreibung, die Theater als Paradigma des Synthetischen sowie die Bühne als den prädestinierten Ort einer Synthese der Künste erblickt. Der Bogen dieser Betrachtung wird zeitlich in beide Richtungen über das Wagner'sche Gesamtkunstwerk hinaus gespannt: Zum einen geht die Reise zurück in das Reich der Romantik, zum anderen bis weit in die Gefilde postmoderner Kunst- und Theaterkonzepte.

Seine Exkursionen fundiert der Autor mit einer historischen Dialektik, die das Sinnangebot ganzheitlicher Synthesen unmittelbar auf die nachaufklärerische Erosion traditioneller europäischer Zentralwerte bezieht und den "Verlust der religiösen Zentralperspektive" sowie das damit verbundene allgemeine Sinndefizit zu kompensieren trachtet. Den diagnostischen Befund sowie die kurativen Mittel liefert unter anderem die programmatische Utopie der deutschen Frühromantik. Neben der von Friedrich Schlegel inspirierten "Progressiven Universalpoesie" ist es vor allem Schellings Postulat einer im Kunstwerk objektivierten inneren Einheit der Welt, durch die sich die romantische Sehnsucht nach regenerativer Einheit und Ganzheit ausspricht. Überwunden werden soll durch eine integrale Kunst die zivilisationsgeschichtliche Differenz von Ich und Natur, Sprache und Bild, Körper und Geist sowie die tragische Erkenntnis einer unausweichlichen Individuation.

Im Kontext einer ausführlichen Analyse frühromantischer Synthesetheorien entwirft Hiß das "romantische Paradox" einer synthetischen Werktheorie. Denn das so genannte romantische Gesamtkunstwerk war ein Schreibtischentwurf, der zunächst keineswegs seine szenische Objektivierung beabsichtigte. Dieser These folgt eine detaillierte Darstellung von Richard Wagners neomythologischem Gesamtkunstprogramm aus dem Geiste eines reformierten Musikdramas. Die enorme theatergeschichtliche Bedeutung der "Synthetischen Visionen" gründet dabei in der zwingenden Schlussfolgerung, Wagners Projekt einer "Theatralisierung des Synthetischen" unmittelbar an die sinnliche Sphäre körperlicher Wahrnehmung zurückzubinden und damit das Theater aus der logozentrischen Sackgasse zu befreien, in die es die Aufklärung und in deren Nachfolge Hegels Ästhetik gebracht hatte. Daraus ergibt sich eine zweite signifikante Schnittstelle zur Theatermoderne: Das multimedial generierte "Erhabene" zielt auf jenes metaphysische Dionysium, das der analytischen Doktrin der "Gutenberg-Galaxi" diametral entgegensteht. Wagner als vitalistischer "Ingenieur der Wirkung" materialisiert das "romantische Welteinheitswähnen" in einer gigantischen Theatersynthese, welche die diversen Einzelkünste genauso in sich auflöst wie die vielfältigen utopischen Entwürfe seiner Epoche. Wagners Syn-Ästhetik generiert zugleich ein völlig neues Wahrnehmungsdispositiv: den mythischen Abgrund des Bayreuther Festspielhauses, in dem das metaphysische Konzept des Musikdramas multimedial realisiert werden soll.

Hier lässt sich schließlich auch der Übergang zu den großen Theaterreformprogrammen am Fin de siècle lokalisieren: Erst Adolph Appias Synchronisierung sämtlicher Aufführungsparameter garantiert die Einheit von musikdramatischer Vorlage und Bühnenrealisation. Dabei avanciert der Regisseur zu jenem allmächtigen Gesamtkünstler, der den Bühnenraum sakralisiert und das (bürgerliche) Subjekt hinwegtilgt. Das Theater als "synthetische Anstalt" intendierte jene Abstraktionsdramaturgie, in deren Statik einer höheren Ordnung sich der "Tempel des Traums" realisieren lassen sollte. Hiß legt auch hier verschüttete Linien zur ganzheitlichen Utopie der Frühromantik frei und stellt das Synthetische in einen Epochen übergreifenden Traditionszusammenhang.

Im Anschluss an diese Propädeutik des Gesamtkunstwerks im Kontext der großen ästhetischen Reformentwürfe des 19. Jahrhunderts entwickelt das Buch seine theatergeschichtliche Kernthese. Es geht um die Geburt des Regietheaters aus dem Geist einer genuin romantischen Korrespondenzästhetik. Bei Max Reinhardt wird der Regisseur schließlich zum eigentlichen Autor eines integral verstandenen theatralen Werkes - der Aufführung. Die daraus resultierende mediale Differenzierung von Drama und Aufführung und die damit verbundene Emanzipation des Theaters ist die Grundlage nicht nur für eine paritätische Gemeinschaft der Künste, sondern auch für eine schöpferische Teilhabe des Zuschauers am Prozess der Aufführung. Max Reinhardts raumplastischer Bühnenzauber bemüht zugleich sämtliche multimedialen Inszenierungsfaktoren und erstrebt dabei eine Wirkungsästhetik, die "das szenische Gesamtkunstwerk als Medium einer Produktion von Effekten des Erhabenen" weiter entwickelt. Mit der Geburt der "Inszenierung" aus dem Geist einer romantischen Korrespondenzästhetik wird mit dem dramatischen Autor auch der Werkbegriff entmachtet und zugleich der Regisseur inthronisiert.

Mit der Götterdämmerung der "Gutenberg-Galaxis" avancieren auch die körperlichen Dimensionen des Theaters. An den Rändern der Theatermoderne beginnt im Zeichen des Gesamtkunstwerks die Karriere des Dionysischen, des Kollektiven, ja des Atavistischen und Regressiven. Durch massentheatrale Publikumszurichtung wird jener Traum einer kollektiven Identität generiert, deren spiritueller Verführungszauber noch heute von den zeremoniellen Großveranstaltungen und Massenspektakeln (Olympia-Feiern, Love-Parade, Weltjugendtage, Kirchentage, Parteitage etc.) ausgeht.

An diese Studien über das dionysische Programm der Theatermoderne schließen psychoanalytische sowie massenpsychologische (aber auch medientheoretische) Überlegungen an, in deren Zentrum die Freud'sche Theorie über den Kulturerwerb durch die Sublimierung sexueller sowie aggressiver Triebanteile steht. Die regressiven Tendenzen im "Ich", denen sämtlich die infantile Sehnsucht nach einem mythisch-vorzeitigen, naiv-unbefangenen und kulturell unbelasteten Urzustand innewohnt, bilden den anthropologischen Humus für die synthetische Rekonstruktion einer verlorenen Ganzheit. Die Überwindung des Guckkastenprinzips sowie die Abschaffung der Rampe ermöglichen eine musikalisch-rhythmische Entdifferenzierung von Schauspielern und Zuschauern, wodurch die Massen der suggestiven Synchronisation des Regressiven unterworfen werden können.

Mit dem Erscheinen der historischen Avantgarden entsteht eine erste Krise der Korrespondenzen. Doch erweisen sich im Kontext der Fortschritts- und Zivilisationsdynamik selbst die "futuristischen Katastrophen", die "Merz-Kunst" oder auch die "dadaistische Sprach- und Kulturkritik" als zu leichtgewichtig, um der "Schwerkraft der Korrespondenzen" zu widerstehen: Die Verabschiedung der universellen Identität des Ganzen und Gesamten generiert das "negative Gesamtkunstwerk". Wenn auch die szenischen Potentiale atomisiert werden, so konstituieren diese doch noch einen Bezug auf ein übergeordnetes idealistisches, utopisches oder propagandistisches Prinzip. Vor allem beim russischen Proletkult-Theater wird das Gesamtkunstwerk politisch-agitatorisch instrumentalisiert und zu einer durchkalkulierten Gesamtattraktion erweitert; "der Regisseur wird zum Ingenieur", der den propagandistischen Effekt auf den daran teilhabenden Zuschauer genau berechnet.

Bleibt schließlich die Frage, was nach dem Untergang der großen Utopien und dem Scheitern der Avantgarden der Moderne an deren Stelle getreten ist. Das postmoderne Regietheater experimentiert mit den Fragmenten der synthetischen Programmentwürfe. Fernab jeglicher szenischer Hermeneutik und jenseits der verstaubten Weisheitslehren der guten alten Gutenbergwelt inszenieren Regisseure wie Schleef, Ciuli, Castorf, Wilson oder Marthaler eine radikale "Befreiung der Differenzen" und bedienen sich dabei jener multimedialen Depotenzierung von Ordnungsprinzipien, die den überwältigenden Verblendungszusammenhang der spätkapitalistischen Bilder-, Waren- und Verwaltungswelt üppig illustrieren.

Das Gesamtkunstwerk ist in der Tat obsolet geworden. Hiß lässt seine genealogische Studie über die synthetischen Visionen der vergangenen zwei Jahrhunderte mit einem Exkurs über das traumdämmernde Theater des Schweizer Regisseurs Christoph Marthaler ausklingen. Marthaler verabschiedet das Gesamtkunstwerk mitsamt seinen dramatischen, hermeneutischen und symbolistischen Konnexionen zugunsten einer melancholischen Endzeitstimmung. Auf den Trümmern synthetischer Sehnsüchte inszeniert er die Götterdämmerung des Gesamtkunstwerks als eine musikalisierte Groteske, die den verdrängten Wahnsinn der Geschichte genauso belächelt wie sie die entsubjektivierte Dignität des Banalen und Alltäglichen beschwört. "Das Gesamtkunstwerk funktioniert nicht mehr, die geistige Welt, die es hervorgebracht hat, ist ausgeblutet."

Mit nostalgischer Wehmut schließt diese überaus kenntnisreiche Studie, deren Detailreichtum den Mut zum großen Bogen genauso wenig vermissen lässt wie zur spekulativen Theoriebildung. Durch ein subtiles Netz an leitmotivischen Kernbegriffen, Symbolen und Korrespondenzen wird dabei ein Verweisungszusammenhang geschaffen, der jenen synthetischen Darstellungsmodus bemüht, welcher im theatralischen Blick posthermeneutischer Dekonstruktionen eigentlich gar nicht mehr möglich sein sollte. Somit unterlaufen die "Synthetischen Visionen" von Guido Hiß ihren Gegenstand einmal mehr und transferieren ihn auf eine Abstraktionsebene, welche allein eine solche Darstellung rechtfertigen und ihr Gelingen garantieren kann.


Titelbild

Guido Hiß: Synthetische Visionen. Theater als Gesamtkunstwerk von 1800 bis 2000.
epodium Verlag, München 2005.
319 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 3980823148

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