Schlafmittel

David Wagner hat seinen ersten Roman geschrieben

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die sehr junge deutsche Erzählliteratur hat derzeit einen leichten Stand. Dank der Initiative einiger Verlage ist im Markt ein Bedarf entstanden, blutjunge Erzähltalente sind gesucht, sie werden in Schreibworkshops und Lektoraten fit gemacht und treten sogleich als Medienprofis an die Öffentlichkeit. Die Literaturkritik hat sich gern darauf eingestellt, sie feiert die Jugend der Autoren und Autorinnen und ist begeistert, dass so viele Haare auf dem Kopf von Alexa Hennig von Lange Platz finden.

"Meine nachtblaue Hose", der erste Roman von David Wagner, ist ein Ergebnis dieses neuen Jungautorkultes. Auch die Hauptfiguren sind naturgemäß jung: Der Ich-Erzähler und seine Freundin Fe fahren von Berlin nach Köln und Bonn, zu ihren Eltern und seinem Vater. Er studiert in Berlin Jura, sie schreibt an einer "Ethnologie des Ostens" und dokumentiert die einstigen Unterschiede zwischen dem Ost- und dem Westalltag im ehemals geteilten Deutschland. Obgleich das junge Paar unter dem Dach ihrer Eltern sexuell aktiv ist, gibt Fe sich betont brav und bieder, trägt wieder Brille statt Kontaktlinsen und ein Hemd in "töchterhellblau". Er träumt von seiner Konfirmandenhose, und so regredieren sie ein Stück weit in ihre Kindheit. Die alten Rituale gelten erneut, Erinnerungen werden hochgespült, speziell beim Erzähler, der so besetzt ist von seinen Regressionsschüben, dass er dem Gespräch der anderen kaum folgen kann. Er denkt natürlich an das eigene, zerrüttete Elternhaus, an den ewig Marmelade kochenden Vater, an die Mutter, die selten zuhause ist und eines Tages nach England geht, an Frau Ops, die Haushälterin, die die Wäsche macht und ihm kleine Zettel mit Aufgaben für den Haushalt hinlegt, dabei die Handschrift der Mutter imitierend.

Der innere Monolog des Erzählers ist eine einzige Beschreibungsorgie. Über ihr hängt unverkennbar ein großer Bernhard-Schatten, ständig produziert der Erzähler Todesbilder: Er erinnert sich an die einstige Lust, das Elternhaus anzuzünden, er imaginiert Gesichter als Totenschädel, der Knutschfleck am Hals des Vaters wird zur klaffenden Wunde, der Erzähler entwickelt mit seinem Bruder Selbstmordpläne und spielt im Angesicht von Beethovens Totenmaske Klavier - ein "Untergeher", dessen Tragik jedoch ein wenig blass erscheint. Es ist kaum entscheidbar, ob hier ein Bernhard-Epigone spricht, der seinen Meister noch selbst gelesen hat, oder ob hier einer unbewusst auf das namenlose Heer der Bernhardianer referiert - so verwässert wirkt seine Suada. Nichts gegen große Vorbilder, alle Literatur entsteht aus Literatur, das wird hier auch zurecht thematisiert und anspielungsreich vorgeführt. Ein Stuhlgang und zart nach Urin schmeckende Nieren sind offensichtlich aus dem Calypso-Kapitel des "Ulysses" entlehnt, und vielleicht ist auch die Technik, einen Tagträumer an der Bewusstseinsgrenze zum Protagonisten zu machen, ein wenig von Joyce beeinflusst. Von überall her holt sich David Wagner seine Versatzstücke, aus der Literatur ebenso wie aus der Werbung, aus der Fachliteratur ebenso wie aus der Zeitung. Eine spannende Synthese des Materials aber gelingt ihm nicht.

David Wagner hat gute und routinierte Detailarbeit geleistet, die Oberflächen sind poliert und blitzen, viele kleine Motive und Sujets sind exzellent gesetzt und schön unauffällig funktionalisiert, aber als Ganzes kann sein Roman nicht überzeugen. Wagners Buch erinnert an die jüngeren Erzähler der siebziger und achtziger Jahre, die meinten, sie bräuchten ihren Helden nur auf Reisen zu schicken und ein bisschen Rückschau halten zu lassen, und schon hätten sie eine solide Basis für einen Roman. Wagners Erzählen fehlt es an Spannungsbögen. Alle Details, die er uns schildert, sind auf die gleiche Weise glatt oder erhaben wie die Schaustücke einer Bijouterie, die sich als Glas erweisen. Bemüht und ermüdend. Man lernt das Buch - wie der Vater das Klavierspiel des Sohnes - als Sedativ schätzen. Der Roman hat zwar lauter erzählenswerte, ausbaufähige Geschichten, aber keine tragfähige Gesamtgeschichte. Er verliert sich in seinen Motiven, die immer wiederkehren, aber nie ausgeführt werden. Auf der anderen Seite scheitert David Wagner an der Erzählökonomie: Erzähltechniken werden von ihm überstrapaziert, Motive geradezu totgeritten, etwa wenn er die Gesichtszüge der Großmutter als Fahrzeugteile imaginiert, "die Scheinwerferaugen", die "Scheibenwischerwimpern", die "Stoßstangenlippe" usw., wenn er - Achtung Komik! - die Erfindung des Wankelmotors als "kopernikanische Wende des Kreiskolbenmotorenbaus" bezeichnet, wenn er das Erzählen thematisiert und krampfhaft bemüht ist, Bilder für das Unanschauliche zu finden: "mein Vater, er legte Sätze vor, ich nahm sie vom Teller auf die Gabel und schob sie an den Lippen vorbei in den Mund, einige Geschichten muss man essen."

Seitenschinderei, Kunsthandwerk, Klöppelarbeit. Zäh zieht sich dieser schmale Roman dahin, recht bald schon ist klar, dass er uns keine großen Überraschungen bieten wird, weder sprachlich noch inhaltlich; er wird irgendwann verläppern, ohne dass es dem Erzähler gelungen wäre, uns für sein Belangloses zu interessieren. Er wird sich am Ende weiterentwickelt haben, aber er konnte uns nicht zeigen, wie. Selbst die "nachtblaue Hose", die ihn einst mit Fe zusammenführte, interessiert dann nicht mehr. Mag sie auch sonderbar sein.

Titelbild

David Wagner: Meine nachtblaue Hose.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2000.
200 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3828601197

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