Manguel liest weiter

Ein Tagebuch reflektiert die Einmischung des Gelesenen ins Leben

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Weltbürger Alberto Manguel - daran wird niemand zweifeln, der sein Meisterstück "Die Geschichte des Lesens" und den nicht ganz so guten Nachfolgeband "Die Geschichte des Sehens" kennt - entstammt geistig wie geografisch der Bibliothek seines doppelten Landsmanns Jorge Luis Borges. Manguel, der auf mehreren Kontinenten gewohnt, in mehreren Sprachen unterrichtet und (als Lektor und Übersetzer) die Nationalliteraturen mehrerer Kulturen mitgestaltet hat, ist ein Universalleser, so wie Leonardo und Goethe angeblich Universalgelehrte waren: Er ist überall zuhause und kann überall mitreden, wo es um Weltliteratur geht; und was das Schöne ist: Er gibt seine Leidenschaft, seine Schätze, seine Kenntnis bereitwillig weiter.

Das Lesen scheint in unserer Welt die Funktion als Bildungsweg für Autodidakten ebenso eingebüßt zu haben wie die unterhaltende. Die aktuelle Sehnsucht nach einem Kanon, welcher Identität unter Gebildeten und Belesenen stiften soll, bezeugt diesen Verlust nur allzu deutlich. Umso erfreulicher, dass Manguel trotzdem vorlebt, wie ein auf Lesen konzentriertes Dasein sein kann - wie Auseinandersetzung mit literarischer Gestaltung der Vergangenheit seine Auseinandersetzung mit der Gegenwart prägt, seinen Horizont erweitert, seine Weitsicht schult.

Dabei ist Manguel alles andere als ein Stubengelehrter, der den Literaturspezialisten hervorkehrt. Anlass für sein "Tagebuch eines Lesers" bildet des Autors Umzug in ein Landhaus in Frankreich, wo er darangeht, seine Bibliothek neu zu ordnen. Das beschauliche Leben beginnt Manguel damit, dass er sich monatlich - über ein Jahr lang - das Wiederlesen eines Lieblingsbuchs vornimmt, mit dessen Hilfe die kleinen Ereignisse der einzelnen Tage betrachtet werden: Gespräche mit den Kindern, Treffen mit Bekannten, Gedanken zu den Fernsehnachrichten, Pläne zur Umgestaltung des Gartens. Das wäre nicht weiter lesenswert, würde der Autor nicht seine reichen Leseerfahrungen dazu heranziehen, sich Ansichten, Einsichten und Urteile zu bilden. Soweit wir dieselben Bücher gelesen haben, können wir mitreden. Wer die angesprochenen Werke nur vom Hörensagen kennt, tut sich schwerer. Immerhin regt das "Tagebuch eines Lesers" dazu an, das eine oder andere Buch, von dem man schon so oft gelesen hat, endlich einmal selbst zu studieren. Und zum Glück ist die Auswahl bei Manguels Lektüre alles andere als elitär: Neben Klassikern wie "Don Quichotte" lässt er sich von bekannten Kinderbüchern, Krimis und Belletristik leiten.

Wer von Manguel gebildet werden möchte, ist mit dem "Tagebuch eines Lesers" allerdings schlecht beraten: Der Autor gibt keine Inhaltsangaben der betreffenden Bücher und reflektiert auch nicht über sie, sondern mit ihrer Hilfe.

Dabei geht ihm so einiges durch den belesenen Kopf, das einem anderen wohl schwer nachvollziehbar sein wird. Dann und wann verdichten sich Manguels Gedanken umso lohnender zu Statements, um nicht zu sagen Aphorismen, hauptsächlich das Wesen des Lesens betreffend: "Lesen ist oft ein doppelter Austausch von Bedeutungen zwischen unserem Wortschatz und dem Wortschatz des Buches. Lesen ist auch Gespräch."


Titelbild

Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers.
Übersetzt aus dem Englischen von Chris Hirte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
231 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3100487516

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch