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In einer Nachlassschrift Marianne Webers kommen flüchtende Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs zu Wort

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Kriege und Bürgerkriege in aller Regel von Männern angezettelt und geführt werden, Frauen aber mindestens ebenso sehr zu den Leidtragenden gehören, wird vom Schicksal der Troerinnen in der Antike ebenso bezeugt wie von den vergewaltigten Frauen im Kosovo des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Auch am Ende des Zweiten Weltkrieges war das nicht anders. Über das Leiden deutscher Frauen in den Monaten vor und nach der Kapitulationserklärung im Mai 1945 wusste man allerdings nahezu 50 Jahre lang herzlich wenig. Das änderte sich erst mit dem 1992 von Helke Sander und Barbara Johr herausgegebenen Buch "Befreier und Befreite". Gut zehn Jahre später folgte der von Hans-Magnus Enzensberger unter dem Titel "Eine Frau in Berlin" veröffentlichten Bericht der Anonyma. Nicht, dass man es vorher nicht hätte wissen können. Erschien Anonymas der Bericht in den USA doch schon 1954 und fünf Jahre darauf in der Schweiz. Allerdings blieb er damals unbeachtet. Aus nahe liegenden Gründen schien es nicht opportun, das Leiden der Angehörigen eines Volkes zur Kenntnis zu nehmen, dass so ungleich viel mehr Leid über andere Völker gebracht hatte. So wurde nicht nur Anonymas Bericht keine Aufmerksamkeit zuteil.

Berichte anderer Frauen gelangten erst gar nicht zur Veröffentlichung, etwa diejenigen, die von Marianne Weber zusammengetragen worden waren, einer der prominenteren Vertreterinnen des gemäßigten Flügels der deutschen Frauenbewegung nach 1900. Anfang der 1950er Jahre hatte sie vergeblich versucht, einen Verleger für die Aufzeichnungen zu finden, in denen deutsche Frauen ihre Schicksale während und nach Flucht aus den von Deutschland ehemals besetzten Ostgebieten berichten.

Nun hat das Marianne Weber Institut die von ihr zu einem Buch kompilierten Texte herausgegeben. Es handelt sich teils um nachträglich verfasste, teils um tagebuchartige Berichte von Frauen. Nicht alle handeln von der Flucht, sondern einige auch vom Alltag als Bombenopfer oder der Zeit vor und nach Kriegsende in Potsdam. Aus guten Gründen hat Weber den Berichten einen Text der ehemaligen KZ-Insassin Karolina Lanchoronska vorangestellt. Denn was die Lemberger Professorin im KZ Ravensbrück erlebte und durchlitt, "erklärt so manches, was unsere eigenen Flüchtlinge zu erdulden hatten", wie Weber erklärt. Sie selbst hat Vorbemerkungen zu einigen der Texte sowie eine Einleitung zur gesamten Publikation verfasst. All dies ist in die nun vorliegende Ausgabe aufgenommen worden. Somit dürfte das Buch soweit in der von Weber beabsichtigten Fassung vorliegen.

Ergänzt werden sämtliche Texte durch einen von Richard Grathoff zusammengestellten Anhang sowie ein stilistisch missratenes und inhaltlich wenig überzeugendes Vorwort von Janne Günter, durch das Sätze wie der folgende stolpern: "In den vorliegenden Berichten werden zwar die unterschiedlichen Gesichter der Gewalt auf breitester Ebene aufgerollt, aber als Kern schimmert Menschlichkeit durch." An anderer Stelle macht Günter die "polare Struktur des Planeten Erde" dafür verantwortlich, dass "wir uns dem Frieden nur nähern [...], wenn wir uns mit dem Krieg auseinandergesetzt haben", und raunt von einem "tiefe[n] Wissen um die Zusammengehörigkeit der gegensätzlichen Pole Licht und Dunkel". Kriegs- und Fluchtgräuel führt sie auf "[a]rchaische Zusammenhänge, die gerade in dieser Zeit nicht minder vehement wirksam sind als vor Jahrtausenden" und auf "kollektive Blockaden" zurück. Mit merkwürdiger Logik konstatiert sie schließlich für die Zeit des Kriegsendes: "Die Täter wurden nun zu Opfern [...] und so traf es vor allem die Unschuldigen". Bei Weber hingegen heißt es treffend: "Die Unschuldigen leiden für die Schuldigen". Ähnliche Ungereimtheiten Günters ließen sich fast endlos fortsetzen. Gravierender ist jedoch, dass es von ihrer Aussage, die Geschichte transportierte "neben wichtigen positiven Potentialen auch negative, [die] in Generationen von den Eltern an die Kinder und Kindeskinder weitergegeben [werden] - meist automatisiert und nicht reflektiert", nur noch ein kleiner Schritt zur Exkulpation der Täter ist.

Auch Marianne Webers kurzer Einleitungstext ist durchaus nicht unbedenklich. Zwar konstatiert sie, dass "[d]as Verhalten der Hitlerdeutschen im Osten [...] derart teuflisch [war], daß wir die Racheakte nach unserer Kapitulation verstehen müssen". Doch hat sie gegen die Einrichtung des Warschauer Ghettos und die spätere Deportation der dortigen Juden offenbar nichts einzuwenden, dienten sie ihr zufolge doch dem Zweck, "die Deutschen vor den Juden und Polen zu schützen". Der "jüdische Wohnbezirk", führt die aus, "war von den anderen abgetrennt, aber damit schienen nicht alle Gefahren gebannt. Deshalb geschah im Sommer 1942 die Aussiedlung von mehr als 300.000 Juden", wie sie verharmlosend behauptet.

Die Zeitzeugnisse endlich zugänglich gemacht zu haben, ist den Herausgebern sicher als Verdienst anzurechnen. Dies nicht nur, weil sie von Not und Elend der flüchtenden Frauen Zeugnis geben, sondern auch, weil sie deutlich machen, wie die nationalsozialistische Indoktrination mit ihrer Herrenmenschenmentalität bei einigen von ihnen bis in die Wortwahl hinein fortwirkte; auch in Berichten von Frauen, die sich als Nazigegnerinnen verstanden. Da ist von "mongolischen Fratzen" die Rede und von "slawischem Rassismus" oder davon, dass den Russen der Gebrauch von Gabeln unbekannt sei und sie nicht wüssten, wozu Stühle und Schränke zu gebrauchen seien. Die Herausgeber tun daher gut daran, in einer Vorbemerkung auf die "abwertende oder sogar von Haß geprägte[n] Pauschalurteile, betreffend Polen, Russen und Tschechen" hinzuweisen und kurz zu erläutern, warum sie unverändert abgedruckt wurden.

Unerwähnt bleiben darf allerdings auch nicht, dass einige der Frauen durchaus von "äußerst freundlich[en]" Russen berichten, von tschechischen Bauern oder jungen Polen, die helfen - und ebenso von unmenschlichen Deutschen. Immer sind es jedoch die Frauen, die unter Männern zu leiden haben. Vor allem waren Vergewaltigungen "an der Tagesordnung". Von ihnen berichtet fast jede der Frauen. "Davon unmittelbar bedroht gewesen", heißt es in einem der Texte, "sind eigentlich ausnahmslos alle Frauen, auch von den Polen - sei es bei den Plünderungen, sei es auf den Hamsterwegen, sei es bei der Zwangsarbeitsverschleppung". Weder 13-jährige Mädchen, noch Greisinnen bleiben verschont. Selbst zwei Freundinnen, von denen eine an den Rollstuhl gefesselt ist, werden wochenlang vergewaltigt. Viele der Frauen töten sich anschließend.

"Wir Männer haben oft dem Feind ins Auge gesehen, aber was ihr Frauen erduldet und geleistet habt, ist tausendmal mehr", versichert ein ehemaliger deutscher Soldat einer der Frauen. Das trifft zweifellos zu - und nicht nur für deutsche Frauen.


Titelbild

Marianne Weber: Frauen auf der Flucht. Aus dem Nachlaß von Max und Marianne Weber.
Herausgegeben vom Marianne Weber Institut.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2005.
378 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 389528517X

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