Gründe und Abgründe der Liebe

Harry Frankfurts Überlegungen zur Theorie des besonders guten Lebens

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Harry G. Frankfurts Buch über die Liebe sucht Antworten auf eine existenzielle Frage aus der Perspektive einer nicht ganz so existenziellen Philosophie. Frankfurt ist analytischer Philosoph, bekannt geworden durch seine Verteidigung der Willensfreiheit und seine Überlegungen zur Wertethik. Die Liebe war jedoch meist für die kontinentale Philosophie Thema, pathetisch in der Romantik, weiterhin einschlägig bei Sartre und Adorno sowie - will man sie als Philosophen ehren - selbstverständlich auch bei Freud und Lacan. In dieser (grob gesprochen) existenzialistischen Tradition war Liebe immer ein Skandalon sowohl für die vernünftige Identität als auch für die autonome Lebensführung, ganz sicher aber keine einfache Angelegenheit. Der Andere stellte sich zumindest vorderhand als existenzielle Herausforderung eigener Zwecksetzung und Integrität dar. Nicht umsonst mussten im philosophischen Kino Frankreichs, in der "Nouvelle Vague", Liebesgeschichten immer mit einem tödlichen Autounfall enden.

Die Abgründe und Pathologien, die Zerrissenheiten und Verletzungen, die die kontinentale Perspektive hervorkehrt, spielen für Harry Frankfurt zumindest keine Hauptrolle. "Beziehungen", schreibt er, "die im Wesentlichen romantisch oder sexuell sind, bieten meiner Verwendung nach keine sehr authentischen oder erhellenden Paradigmen der Liebe." Und weiter: "Beziehungen dieser Art sind in der Regel mit einer Reihe extrem irritierender Elemente verbunden"; sie sind "so verwirrend, dass es nahezu unmöglich ist, sich darüber klar zu werden, was genau hier passiert." Nach dieser (nicht ganz unerheblichen) Einschränkung thematisiert Frankfurt die Liebe weniger als ein Problem für vernünftige Identität und Autonomie als vielmehr als deren Korrelat. Sie ist Bedingung und Resultat der Orientierung an überindividuellen Zwecken und stärkt den Liebenden eher als dass sie ihn zersetzt.

Streng genommen interessiert Harry Frankfurt insofern nur eine bestimmte Spielart der Liebe: die Sorge. Die mehrschichtige Formulierung des amerikanischen Originals "to care for" bringt diesen thematischen Konnex seiner Gedanken zur Liebe auf den Punkt. Indem wir jemandem unsere Kraft zu seiner Entfaltung und zur Verwirklichung seiner Ziele widmen, sorgen wir uns. Sich nun um jemanden (oder auch um etwas, Frankfurt nennt zum Beispiel die Nation oder die Idee der sozialen Gerechtigkeit) zu sorgen, bedeutet, den eigenen Willen zu binden. Vor allem für die Liebe zwischen Menschen ist plausibel, dass sie, wie Frankfurt pointiert, das Potenzial dessen vergrößert, dem sie gilt. Die berühmte Definition der Liebe aus Spinozas Ethik zielte genau auf diesen Sachverhalt.

Für Frankfurt ist die Orientierung des Subjekts an äußeren Zwecksetzungen, so wie es die Liebe ist, eine Bedingung der psychischen Integrität und der Selbstliebe. Er schreibt sogar mit apodiktischer Schärfe, "dass alles, was wir tun, irgendein Endziel haben muss", allein, "um sie zu haben", nicht nur, um sie "zu erreichen". Endziele zu haben, gewissermaßen einen Glauben an einen überindividuellen Sinn, ist intrinsisch und instrumentell zugleich. In einer schönen Wendung schreibt Frankfurt: "Es mag paradox klingen, aber es lässt sich durchaus sagen, dass Endzwecke instrumentell wertvoll sind, weil sie äußerste Werte verkörpern, und dass die effektiven Mittel zum Erreichen der Endzwecke intrinsisch wertvoll sind, weil sie instrumentellen Wert besitzen." Es geht uns besser, wenn wir uns etwas um seiner selbst willen widmen. Etwas zu verschenken zu haben, ist gewissermaßen ein lohnendes Kalkül. Die Gründe der Liebe bieten uns in diesem Sinne Gründe der Orientierung unseres Daseins, der integren Ausrichtung unserer Identität.

Wenn die Liebe nun bedeutet, einen geliebten Anderen in dessen Vermögen zu bestärken, ihn eigene Zwecke verfolgen oder schlicht: sein Potenzial vergrößern zu lassen, dann ist sie auch der Schlüssel zu einem erweiterten Begriff von Selbsterhaltung. Indem ich einen anderen um seiner selbst willen in seinen Zwecken bestärke, finde auch ich selbst zu höherem Glück. Liebe bedeutet somit, zu eigenem Vorteil - gleichwohl intrinsisch - etwas Gutes zu tun. Letztlich diskutiert Frankfurt ein moralisch gutes Leben, das sich auch gut anfühlt. Und das scheint tatsächlich plausibel. Die Liebe zu einem Menschen oder für eine soziale Idee ist eine schöne Erfahrung, ohne die wir uns tatsächlich ärmer fühlen.

In diesem Sinn versucht Frankfurt auch die Selbstliebe zu interpretieren. Auch sie lasse sich im Sinne der "intrinsischen und interessefreien Unterstützung des Geliebten bei der Realisierung eigener Zwecke" verstehen. Das leuchtet durchaus ein. Selbstliebe bedeutet, seine Identität durch Orientierung an äußeren Zwecken zu hegen. Für Frankfurt etwas durch und durch Positives, ungeachtet der abenteuerlichen Beliebigkeit möglicher Zwecksetzungen. Frankfurts Argumentation, dass die Unterstützung seiner selbst bei der Verfolgung eigener Zwecke interesselos sei, ist dabei freilich etwas schief.

Doch die besondere Plausibilität seines Buchs hängt nicht daran. Frankfurt macht auf eine so bestechende Weise deutlich, inwieweit die Orientierung des Selbst an Momenten hängt, die wichtiger sind als das Selbst, dass man sowohl einige Schwächen seiner Argumentation als auch die im Zeichen der Dekonstruktion erläuterten Aporien der Selbstrepräsentation (in der jede identitäre Selbstbestimmung auch eine Selbstverneinung eigener Potenziale wäre) vorübergehend vergessen möchte. Wenn Frankfurt darauf hinweist, "dass die Menschen in sich gespalten sein können, und zwar so, dass es unmöglich ist, eindeutig festzustellen, was sie lieben und was nicht", dann erscheint das bereits als äußerstes Zugeständnis an das Problem, sich selbst eine einheitliche Form zu geben. Tatsächlich ist eben dieses Problem seit Fichte mehr als nur einerlei. Selbstrepräsentation und Orientierung an äußeren Zwecken ist im Sinne Fichtes eine (gleichwohl unumgehbare) Selbstverdopplung und Selbstentzweiung. Die Zerrissenheit in der eigenen Zwecksetzung erscheint somit nur als die neue Fassung jenes Grundproblems, aus dem der nachkantische deutsche Idealismus geboren wurde.

Für den Kantianer Frankfurt ist die Zerrissenheit nur eine Vorstufe zur Langeweile, weil sie die Orientierung des Selbst unterminiert und eine gerichtete Lebenspraxis verunmöglicht. Heidegger, der nicht zuletzt an Hegel und Schelling, somit eben an dem genannten nachkantischen deutschen Idealismus geschult war, wurde die Langeweile nicht umsonst zu einem philosophischen Problem. Frankfurt scheint indirekt auf Heidegger zu rekurrieren, wenn er mit der (nicht selten je entschlossener desto nihilistischer scheinenden) Kategorie der Entschlossenheit auf sie reagiert. Selbstliebe heißt für ihn, mit Entschlossenheit seine eigenen Zwecke verfolgen zu können und die Zerrissenheit zu überwinden. Wie im unendlichen Feld von Zwecken zu einer Einheit der Zwecksetzung gefunden wird, lässt Frankfurt dann argumentativ offen. Eine Antwort gibt er aber doch. Die Evidenz der Liebeserfahrung steht dafür ein.

Die Liebe ist für Frankfurt eine Quelle von Gründen, die selbst grundlos ist. Wie die Elternliebe für einen Säugling, so entspringe die Liebe keinem Feld rationaler Argumentation. Sie entspringt sich selbst. Sie gibt Gründe für die Ausrichtung unseres Lebens, hat aber selbst keinen. Liebe stiftet grundlos Gründe. Sie kommt wie aus dem Nichts. Wenn wir jemanden oder etwas lieben, können wir zwar Gründe anführen. Sie zählen aber nur, weil wir ohnehin schon lieben. Dadurch hat die Liebe mitsamt ihrer Gründe einen nicht unerheblichen Abgrund. Denn umgedreht heißt das auch: Es gibt keinen Grund, irgendjemanden zu lieben, und dafür zu argumentieren ist sinnlos. Das ist Frankfurts ungewollte Dekonstruktion der Liebe im Zuge ihrer höchsten Rechtfertigung. Diesem Gedanken zufolge wären wir alle in letzter Instanz alle nur grundlos liebenswert und der Kampf darum, mit Recht geliebt zu werden, zum Scheitern verurteilt.

Man mag Frankfurt darin folgen, sollte sich aber bewusst machen, theologisches Terrain zu betreten: In letzter Instanz wären wir auf der Suche nach Liebe nur Gottes Kinder, schlechthin abhängig von der Gnade der Liebe anderer.


Titelbild

Harry G. Frankfurt: Die Gründe der Liebe.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
109 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 351858426X

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