Welche Wahrheit liegt im Verschwinden

Hartmut Langes Roman „Eine andere Form des Glücks“

Von Tessa Randau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Corinna Mühlbauer – diesen gewöhnlichen Namen trägt eine höchst ungewöhnliche Frau. Sie ist die zentrale Figur in Hartmut Langes neuem Roman „Eine andere Form des Glücks“, doch erfährt man weder etwas über ihr Aussehen, noch erhält man Einblicke in ihre Gedankenwelt. Sie spricht nur wenige Worte, ist präsent und auch wieder nicht. Sie ist durchscheinend wie Alabaster und flüchtig wie ihre blassblaue Handschrift. Der Autor zeichnet seine Protagonistin als phantomhafte Frau, der es gelingt, Menschen in ihren Bann zu ziehen. Zunächst den Berliner Statiker Kippenberger, mit dem sie liiert ist, und später dessen Freund, den Zahnarzt Dahlhaus.

Immer wieder wirft Corinna ihrer Umwelt Fragen auf, denn sie besitzt die Fähigkeit, auf unerklärliche Weise zu verschwinden. Hartmut Lange verwendet hier ein Motiv, mit dem er bereits in früheren Novellen, wie zum Beispiel „Die Reise nach Triest“ (1991), seine Leser verunsichert hat. Als Corinna ihren Geliebten verläßt, ist dies der Moment, in dem Dahlhaus auf sie aufmerksam wird. Er erkennt an der tiefen Krise, die sein Freund durchlebt, dass das Leben Facetten besitzt, von denen sein bisher geführter, nüchterner Alltag nicht berührt war. Dahlhaus gerät in einen Strudel des Umdenkens und entfremdet sich immer mehr von seinem Umfeld. Er begibt sich auf die Suche nach einer anderen, bisher nicht gekannten Form des Glücks und sieht in Corinna den Schlüssel dazu. „Die Wahrheit liegt im Verschwinden“ wird dabei zum zentralen Satz und soll die Anwort sein, die Dahlhaus auf seine Fragen findet. Dem Leser bieten diese Worte jedoch keinerlei Aufklärung, im Gegenteil: Sie forcieren die bereits bestehende Verwirrung. Das Verlangen des Zahnarztes, aus den gewohnten Bahnen auszubrechen, führt so weit, dass er beginnt, die stabile Ehe mit seiner Frau Lore in Frage zu stellen. Antrieb für Dahlhaus‘ Wandel bietet immer wieder Corinna, die sich brieflich mit ihm in Kontakt setzt und Dinge über ihn weiß, die ihr eigentlich nicht bekannt sein können.

Die Figur der Corinna Mühlbauer, die zu Beginn des Romans wie eine verschlossene und in sich gekehrte Frau wirkt, erscheint im Laufe der Erzählung zunehmend surrealer. Die Konturen verwischen. Ist sie wirklich ein Wesen aus Fleisch und Blut oder nur eine Traumgestalt, die mit unsichtbaren Fäden das Geschehen in eine bestimmte Richtung lenkt? Immer, wenn eines der sehr knapp gehaltenen Kapitel zu Ende geht, will man der Lösung des Rätsels näherkommen, will dieser Frau eine Identität entlocken oder der Geschichte einen logischen Hintergrund. Doch dies gelingt nicht, denn die Wirklichkeit wird immer unwirklicher.

Hartmut Langes jüngstes Werk steht somit atmosphärisch in der Tradition seiner Novellen „Die Stechpalme“ (1993) oder „Der Herr im Café“ (1996). Schon in ihnen verwiesen einfache Sätze und belanglose Begebenheiten auf rätselhaftes. Auch hier deutet der Autor an, umschreibt und läßt ahnen. Doch den Schlüssel zur Lösung aller Mysterien behält er für sich, sofern er ihn denn selbst besitzt.

Titelbild

Hartmut Lange: Eine andere Form des Glücks.
Diogenes Verlag, Zürich 1999.
144 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3257062117

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