Ein tschechischer Surrealist hinter englischen Anstaltsmauern

Ivan Blatnýs Rückkehr in Versen

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Jürgen Serke 1987 seinen sensationellen Band "Die verbannten Dichter" herausgab, überraschte der "Fall Ivan Blatný". Während die übrigen vorgestellten mittel- und osteuropäischen Dichter im westlichen Exil recht und schlecht Anerkennung und damit auch ihr Auskommen gefunden hatten, verwunderte Ivan Blatný das Publikum. Vom kommunistischen Regime seiner tschechoslowakischen Heimat seit den 50er Jahren offiziell totgesagt, verbrachte einer der letzten Vertreter des tschechischen Surrealismus Jahrzehnte hinter den Mauern einer englischen Psychiatrie. Die Krankenschwester Frances Meacham hatte sich seiner besonders angenommen und die vollgekritzelten Kassiber und Zettelchen, die vom Personal über die Jahre hinweg achtlos weggeworfen wurden, gesammelt und damit gerettet. Irgendwann schickte sie Auszüge an den von Josef Škvorecký im kanadischen Toronto geleiteten Exilverlag "Sixty-Eight-Publishers". Das Ergebnis war "Alte Wohnsitze", die Publikation eines längst Vergessenen der tschechischen Moderne. Somit lag ein Spätwerk vor, das unter außergewöhnlichen Bedingungen entstanden war.

Der 1919 in Brünn geborene Ivan Blatný hat bis zu seinem Tod im Jahr 1990 nie mit dem Schreiben aufgehört, und das Erstaunliche dabei ist, dass er in seinen späten Versen keinen signifikanten Bruch mit den frühen Werken vollzieht. Am Beispiel Blatnýs bestätigt sich die Bemerkung Bohumil Hrabals, dass die surrealistische Künstlergruppe "Skupina 42" über eine lang anhaltende Wirkungsgeschichte verfüge. Der surrealistische Stil war nicht nur beibehalten, sondern auch verdichtet worden. Blatný, der in seiner Jugend sehr gut über die verschiedenen Kunst- und Literaturströmungen informiert war, führt in seiner autonomen lyrischen Welt surrealistische wie auch existentialistische Stimmungen zusammen. Es ergeben sich atemberaubende Bilder voll betörender Zartheit: "Draußen spinnt der Schnee sein weißes Garn // und wallt wie die Mähne auf einem Ross vor dem Fenster herab. / Schon bald wird der Heilige Abend läuten".

Die Sammlung "Alte Wohnsitze" zeigt, dass der vereinsamte Blatný den poetischen Dialog mit seiner Heimat weitergeführt hat. In dem Versuch, an den abrupt abgerissenen Zeitfaden anzunüpfen, werden immer wieder Orte der mährischen Kindheit und der Prager Jugend besungen, werden Begegnungen mit Dichter- und Malerfreunden erinnert. Blatný hatte sich in den 50er Jahren von einer offiziellen tschechoslowakischen Delegation abgesetzt und in Großbritannien um politisches Asyl gebeten. Seine Furcht vor der Rache der Stalinisten hatte ihn schließlich hinter die Anstaltsmauern gebracht. Unter dieser Zeitglocke von Stillstand und Sicherheit hatte er ausgeharrt und sein Werk auf Papierschnipseln fortgeschrieben.

Blatnýs Vielstimmigkeit gibt Auskunft über das Ringen von Schizophrenie mit poetischer Polyphonie, die in seinen Gedichten auch durch Mehrsprachigkeit markiert wird. Zweisprachig aufgewachsen und die längste Zeit in England lebend, verkörpert er in seiner Disparatheit ein typisch europäisches Schicksal des letzten Jahrhunderts. Das Gedicht "Frühling" widmete Blatný dem großen tschechischen Gelehrten und Romanisten Václav Cerný: "Mallarmé hat den Trog erfunden wir waschen / waschen azurblaue Wäsche an der frischen Frühlingsluft / und die ganze Stadt scheint nur / leicht wie aus Seifenschaum".

Radim Klekner hatte 1992 in dem schmalen Bändchen "Landschaft der neuen Wiederholungen" deutschsprachigen Lesern erstmalig Zugang in die Welt von Ivan Blatný verschafft. Es ist der Wiener Bohemistin Christa Rothmeier zu verdanken, dass endlich ein weiterer Band mit hervorragend übersetzten Gedichten von ihm vorliegt.


Titelbild

Ivan Blatný: Alte Wohnsitze. Gedichte.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Christa Rothmeier.
Edition Korrespondenzen, Wien 2005.
179 Seiten, 22,20 EUR.
ISBN-10: 3902113367

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch