Im Schatten welker Rentnertriebe

Erinnerung, sprich: Martin Amis' Memoiren "Die Hauptsachen"

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Happy the man / and happy he alone / who in all honesty / can call today his own. / He who has life / and strength enough to say: / Yesterday's dead and gone, / I want to live today." Diese Zeilen werden gesungen von "The Divine Comedy", einem skurrilen Grüppchen britischer Barden. Und nur diese Zeilen werden gesungen. Während der restlichen (vier? sechs? acht?) Minuten des Songs "The Booklovers" zählt die Band berühmte Autoren auf. Vierzig, sechzig, achtzig Namen, jeder einzelne begleitet von einem launigen Ausruf. Sartre: Let's go to the dome, Simone! Melville: Ahoy there! Hesse: Oh, es ist alles so hässlich! Auch Kingsley Amis, Großbritanniens Skandalliterat, wird gewürdigt. Ohne kompletten Satz, though. Die Musiker lassen ihn einfach verschleimt-verraucht-verkatert husten. Passt, prima. Und dann, gegen Ende des Songs, kommt auch Sohnemann Martin schließlich an die Reihe. Mit... einem Rülpser.

Dieser Rülpser ist symptomatisch. Seit seinem Erstlingsroman "Das Rachel-Tagebuch" (1973) ist Amis auf das Image des jungen Wilden abonniert. Versnobter Rüpel, rüpelhafter Snob, ein lautes, zynisches, latent affektiertes enfant terrible, seit über 40 Jahren in der Pubertät. Und so blödsinnig dieses Schubladendenken auch sein mag, es zaubert einen faszinierenden Nimbus um Amis' Romane. Denn egal wie halbgar einzelne Bücher auch ausfallen, irgendwie denkt man jedes Mal: "Na ja, das war die Ausnahme. Amis ist ein toller Hecht, war halt nicht sein Tag."

"Die Hauptsachen" nennt Amis seine Memoiren. Und bei jemandem, der seit Jahren um alle Hauptsachen herumschlenzt, Leseerwartungen weckt, um unvermittelt in ganz andere Bereiche abzudriften, wirkt dieser Titel wie das heilige Versprechen von Lucy aus den "Peanuts", Charlie Brown dieses Mal ganz bestimmt nicht im letzten Moment den Football vor den Füßen wegzuziehen. Dumm jene Leser, die ihm glauben. Denn Erwartungen zu befriedigen, das (selbstgesteckte?) Ziel erfüllen, das scheint Amis überhaupt nicht zu wollen, vielleicht gar nicht zu können. "Falls das Ergebnis gelegentlich abgehackt, ziellos, fahrig usw. ausfällt", schreibt er bereits im Vorwort, "kann ich nur sagen, dass es auf meiner Seite des Schreibtischs genauso aussieht."

Deshalb ohne große Erklärungen und Inhaltsbeschreibungen flugs zur Kritik. Wichtig: Man sollte dieses Buch nicht verschenken. Man sollte sich von ihm keine große Autorenpoetik, oder allzu tiefgründige Bezüge zu Martin Amis' Romanen versprechen. Man muss diese Romane gar nicht kennen. Was man kennen sollte: die Romane von Papa Kingsley, möglichst das Gesamtwerk. Man sollte sich schon vorher gut in den Irrungen und Wirrungen des Amis-Clans auskennen und nicht auf lange Erklärungen hoffen. Das selbe gilt für diverse Lichtgestalten der Weltliteratur (Nabokov, Joyce) und einige Gegenwartsautoren (Saul Bellow, Ian McEwan, Julian Barnes). Man sollte einen Textmarker mitnehmen, um all die wunderbar galligen, geschliffenen Oneliner festzuhalten ("Es ist nicht so, dass in der Zukunft jeder für fünfzehn Minuten berühmt sein wird. In der Zukunft wird jeder immerzu berühmt sein, aber nur für sich selbst."). Man sollte mit literarischen Diskursen und Paradigmen vertraut sein. Und man sollte Fußnoten nicht nur tolerieren, sondern wirklich, wirklich schätzen.

Genau das sind "Die Hauptsachen" nämlich größtenteils: Fußnoten. Kleine Anmerkungen, Querverweise und Exkurse, ein sich in alle Richtungen verzweigendes Netz sehr subjektiver persönlicher Standpunkte. Verteidigungen, Machtworte, Kommentare, Spielereien, Assoziationen, durchaus auch der ein oder andere Unterleibstritt: Amis erzählt nicht, er reagiert. Sehr kunstvoll, kritisch, intelligent; aber Spaß werden nur jene Leser haben, denen es gelingt, all das eben nicht als Nebensache abzutun.

Amis stellt mehrere Themenfelder gegeneinander. Sein Verhältnis zum Vater, dessen Affären und Lebenslügen, Trinkgewohnheiten, politische Ansichten. Und dessen Bücher, die Amis immer wieder ins Private zurückliest. Martin prüft, wie sich Kingsleys Probleme und Unsicherheiten im Werk spiegeln. Weitere Themen: Das Durcheinander um Amis' Roman "Information" (für den er von seinem US-Verlag einen horrenden Vorschuss kassierte), Amis' jahrelange traumatische Besuche beim Kieferchirurgen (an den der horrende Vorschuss schließlich floss), und die Boulevardpresse (die ihn eitel und verantwortungslos schimpfte, weil er so viel Geld für seine ruinösen Zähne ausgab). Wichtig auch der Bezug zu seinen Söhnen und zur unehelichen Tochter Delilah, die er erst kennen lernte, als sie bereits erwachsen war. Und das Schicksal seiner Cousine Lucy, die Ende der 70er spurlos verschwand. Erst 1994 erfuhr die Familie, dass sie dem Serienmörder Frederick West zum Opfer fiel.

Kingsley Amis (der Vater), Saul Bellow (der väterliche Freund), Mike Szabatura (der Kieferchirurg), das sind Amis' Hauptthemen. Lucy Partington (die Cousine) und Delilah Seale (die Tochter) dagegen liefern den emotionalen Hintergrund, vor dem sich Amis' Reflexionen abspielen. Alle anderen Figuren (auch Amis` erste Frau. Auch Amis' zweite Frau. Auch die Mutter von Amis' illegitimer Tochter. Auch Amis' Mutter. Auch Amis' Stiefmutter. Alle Frauen, eigentlich!) werden nur in ihrem Verhältnis zu diesen Menschen charakterisiert, werden knapp eingeführt, über ganze Kapitel hinweg gar nicht erwähnt, dann plötzlich wieder mit anderen Storylines und Personen verknüpft. Doch sie bleiben durchgängig blass, distanziert.

Das scheint weniger eine Frage der Diskretion, als kompositorisches Mittel zu sein. Beeinflusst von Nabokovs kongenialer Autobiografie "Erinnerung, sprich", jongliert Amis mit disparaten Einzelaspekten, etabliert schon auf den ersten fünfzig Seiten einen Rhythmus, einen Beat. Danach kommt nichts mehr Neues. Stattdessen: Improvisationen, kunstvolle Feinabstimmung der Motive, virtuos gewebte Assoziationsketten. Variations on a theme.

Amis kokettiert, wenn er seine Memoiren "abgehackt, ziellos, fahrig usw." nennt. Das Fragmentarische, die fehlende Chronologie, das unvollständige Gesamtbild, das ist nicht die Schwäche, sondern die große Stärke der "Hauptsachen".

Denn dieses Buch ist geschickter und raffinierter gebaut als die meisten seiner Romane. So gut gebaut, dass die Geschichte, die Figuren, der Zusammenhang ins Hintertreffen geraten. Natürlich ist das schlecht. Furchtbar, eigentlich. Aber es ist grandios gemacht. Im Grunde arbeitet sich Amis über 400 Seiten hinweg an dominanten Vaterfiguren ab, unterwirft sich Kingsley und Saul Bellow, ohne eine genuin eigene Stimme zu entwickeln. Aber das ist nicht schlimm. Martin-Lucy ist viel zu affektiert, als dass der Football an Ort und Stelle bleiben könnte - doch man fällt gerne darauf herein, rennt los, stolpert, liegt am Ende im Dreck und kuckt in Amis' höhnisch grinsende Fresse, auf all die blitzsauberen, künstlichen Zähne. Und findet das gar nicht schlimm.

"Die Hauptsachen" machen Spaß. Ein Buch, das man gerne kauft und später, nach dem Lesen, gerne im Regal stehen hat. Dass die Lektüre selbst eher anstrengend und der Autor eine eitle Sau ist, stört überhaupt nicht, ist sofort wieder vergessen. Die Enttäuschung über das Buch überträgt sich nicht auf den Autor. Der bleibt einfach weiterhin vielversprechend - ein Gütesiegel, das tragischer-, aber unerklärlicherweise immer nur auf mittelprächtigen Produkten pappt. Großbritannien, Königreich der Naherwartung. Nichts als Verheißung und uneingelöste Versprechen: Der sehenswerte Film von Guy Ritchie. Der Megahit von Starsailor. Die Ehe von Robbie Williams. Die Wahrheit über Lady Di. Ein Foto, auf dem Geri Halliwell mal wirklich sexy aussieht. Und die große, große Geschichte des großen Martin Amis. Wir warten. Wir vertrauen. Wir sind sicher: Irgendwann passiert es. Und die ganzen Rohrkrepierer, durch die wir uns bis dahin kämpfen müssen, die stören nicht. Im Gegenteil: der Weg ist das Ziel. Irgendwann muss selbst ein Martin Amis erwachsen werden. Rülps!


Titelbild

Martin Amis: Die Hauptsachen.
Übersetzt aus dem Englischen von Werner Schmitz.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
455 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3446206531

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