Klaviatur der Gefühle

Christian Gailly komponiert einen virtuosen Roman

Von Katharina DelogluRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Deloglu

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Christian Gaillys neuen Roman liest, findet sich unversehens vor einem impressionistisch flimmernden Gemälde wieder: einem Ensemble luftig-leichter Wortflecken, die beweglich und nah aneinandergesetzt den Augenblick in seiner atmosphärischen Dichte einfangen. Und wie die Impressionisten als Freilichtmaler zunächst genaue Studien zum Lichteinfall anfertigten und damit die handwerkliche Voraussetzung schufen, so kennt auch der Psychoanalytiker Gailly genau die momentanen Seelenregungen seines Protagonisten, des Komponisten Paul Cédrat.

Die Motive der Handlung erinnern an Viscontis Verfilmung von "Tod in Venedig": Vom Publikum bei der Uraufführung seines neuen Stücks ausgepfiffen, flüchtet der Komponist ans Meer, um dort todkrank die letzten Tage und Stunden seines Lebens mit einer "letzten Liebe" zu verbringen. Gaillys gleichnamiger Roman enthält dabei all das, wofür ihn Publikum und Presse - ob in Frankreich oder im deutschsprachigen Raum - so lieben. Seine musikalische Sprache wirbelt rhythmische, kurze Sätze auf, swingt von einer Personen-Perspektive zur anderen, gleitet die Zeitenskala im Nu hinauf und hinunter, kurz: Christian Gailly komponiert Literatur.

Zentralachse sind die großen Themen der Literatur, Liebe und Tod, die Gailly in "Letzte Liebe" - so signalisiert es schon der Titel - dramaturgisch zusammenführt. War der Tod in seinen bisherigen Romanen allenfalls ein gespenstisch aufblitzendes Moment, das der emotionalen oder atmosphärischen Mélange eine weitere Note hinzufügte und nur wenige Passagen wirklich dominierte, so ist er hier von Anfang an präsent und schickt in heftigen Leidensmomenten seinen Boten voraus: den Schmerz. Aber Gailly wäre nicht Gailly, wenn er nicht diese grundierende Bassstimme als Kontrapunkt für sein heiteres Stakkato, für eine hingebungsvolle Hymne an die Lebenslust nutzen würde, um so einmal mehr der Tragik einen heiteren, zuweilen ironisch-komischen Einschlag zu geben.

"Letzte Liebe" erzählt damit nicht nur von der endgültig letzten Sehnsucht und dem Begehren, das Paul Cédrat für die Badende am Strand empfindet (fein durchkomponiert bis zu der kläglichen Begegnung der beiden mit dem Ehemann und einer ebenso skurrilen wie rührenden Jazzdarbietung des Musikerpaars für den Sterbenden - beide Figuren sind dem Leser schon aus "Ein Abend im Club" bekannt). Diese letzte Liebe feiert das Leben im Angesicht des Todes - bis hin zur Kulmination in einer überwältigenden Schlusspassage - und dabei wie immer auch die Musik. Ob Mozart ("KV 622"), Bach ("Dring") oder der Jazz des Bill-Evans-Trios ("Ein Abend im Club"), die Romane des ehemaligen Jazzmusikers Christian Gailly lassen seinen Leser Musik hören und fühlen: als Sehnsucht, Leidenschaft, Droge.

Wirkt "Letzte Liebe" an der Oberfläche wie ein leicht und locker dahingeschriebenes Improvisationsstück mit jazzigen Variationen, so zeigt sich beim genauen Lesen eine stilistisch ausgefeilte Komposition, deren grammatische Klaviatur von einem Virtuosen gespielt wird. Ein Beispiel: Der Schockmoment, in dem das Publikum Pauls Komposition auspfeift, bleibt eine Leerstelle. Statt des Präsens stehen Futur und Perfekt, Vorgriff und Rückblick, aber der Schock der Gegenwart bleibt ausgespart als ein unsagbares Etwas.

Gaillys Sprache macht es der Übersetzerin nicht leicht. Doris Heinemann, die schon "Ein Abend im Club" ins Deutsche übertragen hat, schafft über weite Strecken eine solide Übersetzung, doch muss sie letztlich auch die Grenzen der Übertragbarkeit erkennen. An manchen Stellen ist die deutsche Sprache einfach zu sperrig für die pointierte Kürze der französischen Formulierung, zu behäbig für die elegante Leichtigkeit der durch die Zeitenwechsel gleitenden Verben. Und so stehen Substantivierungen oder ungelenke Partizipien als Stolpersteine im Weg. Schließlich kann überall dort, wo Gaillys kurze Sätze stilistisch verdichten und dabei mehr lyrisch als prosaisch sind, eine Übersetzung nur ein glanzloser Kompromiss sein. Wer kann, sollte also das Original lesen.


Titelbild

Christian Gailly: Letzte Liebe. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Doris Heinemann.
Berlin Verlag, Berlin 2005.
108 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3827005949

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