Das Mittelalter auf den Kaffeetisch

Über das neue Buch von Jacques Le Goff

Von Ines HeiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Heiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit „Ritter, Einhorn, Troubadoure“ hat Jacques Le Goff einen aufwendig illustrierten Band zu den Bilderwelten des Mittelalters vorgelegt. In 20 thematischen Kapiteln, begleitet von einer informativen Einleitung, werden reale und imaginäre Orte, Personen und sagenhafte Figuren in mittelalterlichen bis modernen Abbildungen – Zeichnungen, Gemälden, Fotografien, Filmszenen, Plakaten – dargestellt. Ihre Entwicklung wird vom jeweils ersten bekannten Auftreten bis zu späteren Ausläufern aktueller Rezeption nachgezeichnet.

Gestaltung und Ausstattung des Bildbands sind dabei außerordentlich ansprechend, orientiert an den typischen Vorgaben eines repräsentativen coffeetablebooks: quadratisches Format, Hochglanzpapier, hohe Qualität der Abbildungen. Jedes Kapitel wird von einer illustrierten Titeldoppelseite eröffnet, verschiedene elegante Schrifttypen sind geschmackvoll aufeinander abgestimmt, ebenso wie Text und Abbildungen jeweils unterschiedlich, aber immer angemessen kombiniert werden. In gestalterischer Hinsicht und auf den ersten Blick lässt sich also sagen: ein wirklich schönes Buch, ein passendes Geschenk für alle historisch und kunsthistorisch Interessierten und gegebenenfalls eine gute Ergänzung für die eigene Bibliothek.

Befasst man sich allerdings mit den zugehörigen Texten – ausgenommen sei an dieser Stelle ausdrücklich die Einführung, die einen hohen Informationsgehalt besitzt – so kann sich der mediävistisch vorgebildete Leser nur wundern. Zum einen finden sich zahlreiche unglückliche oder wenigstens irreführende Formulierungen, von denen man nur hoffen kann, dass sie auf das Konto der Übersetzerin gehen – oder sollte Le Goff, einer der besten Kenner des europäischen Geisteslebens im Mittelalter, aus der in der christlichen Allegorie parallelen Gleichsetzung der Figur des Einhorns sowohl mit Christus als auch mit Maria tatsächlich schließen, dieses habe der europäischen Bildwelt ein „Modell für Bisexualität“ geliefert? Im vorhergehenden Satz ist – deutlich treffender – die Rede vom androgynen Charakter des Christentums.

Zu solchen Absonderlichkeiten kommt zudem häufig inhaltlich Unrichtiges hinzu: So wird beispielsweise im Melusinenkapitel der Schwanritter Lohengrin nicht nur kurioserweise als „außerirdische“ Figur bezeichnet, es wird zusätzlich behauptet, dass er ein der Melusine vergleichbares Wesen aus einem Wasserreich der Anderwelt sei. Richtig ist zwar, dass sich Parallelen zwischen der Melusinengeschichte und der um Lohengrin herstellen lassen, da beide erzählerisch das Motiv der verbotenen Herkunftsfrage aufgreifen – die Abstammung Lohengrins ist indessen weit weniger mysteriös, als der Verfasser uns glauben machen will: Obwohl Lohengrin von einem Schwan (daher wohl die Verbindung zum Element Wasser) nach Brabant geführt wird, ist er keineswegs ein „außerirdisches“ Wasserwesen, sondern Sohn des Gralskönigs Parzival: Wie Wolfram von Eschenbach in seinem „Parzival“ erzählt – wo auch der Verweis auf Lohengrins Vorgeschichte zu finden ist – werden Gralsritter bisweilen, wenn dort keine geeigneten männlichen Erben zu finden sind, an Fürstenhöfe entsandt, um durch eheliche Verbindung mit der jeweiligen Erbprinzessin das Andauern einer gerechten und gottgefälligen Herrschaft in diesen Reichen zu gewährleisten und den nötigen militärischen Schutz zu bieten. Trotz ihrer vorherigen Zugehörigkeit zur Gralsgemeinschaft sind sie dabei jedoch jederzeit genuin menschlich und keine anderweltlichen Feen wie Melusine.

Die Liste solcher Irrtümer und Halbwahrheiten ließe sich fast beliebig verlängern. So spielt beispielsweise das „Rolandslied“ nicht wie angegeben komplett unter freiem Himmel, dort findet lediglich die entscheidende Schlacht zwischen der christlichen Nachhut Karls des Großen und den Sarazenen statt, während sich die Szenen der Vorgeschichte (zumeist Beratungs- und Verhandlungsszenen) durchaus in geschlossenen Räumen, wenn auch teilweise in Zelten, abspielen; die spanische Bezeichnung der „Wilden Jagd“, eines nächtlichen Heeres gepeinigter Seelen, als Huesta antigua ist nicht als „antikes Heer“, sondern einfach als „altes Heer“ zu übersetzen, wie schon allein am lateinischen Pendant Exercitus antiquus erkennbar sein sollte. Im „Cantar del mío Cid“ werden nicht allgemein „Probleme der Feudalhierarchie“ erörtert, es geht um die schließlich erfolgreichen Versuche des Cid, die – wahrscheinlich zu Unrecht (der Grund für seine Verstoßung ist nicht genau zu rekonstruieren, da der Beginn des „Cantar“ nicht überliefert ist) – verlorene Gunst seines Herrschers zurückzugewinnen. Dargestellt wird also ein persönlicher Konflikt, anhand dessen persönliche Tugenden – insbesondere die große Treue des Cid seinem Lehnsherrn gegenüber – demonstriert werden können. Das Feudalsystem als solches wird nicht kritisiert, genauso wenig findet eine übergeordnete oder systematische Diskussion der hierarchischen Ordnung oder ihrer Auswirkungen statt – das Epos als Ganzes ist vielmehr als fast schon propagandistische Affirmation des Feudalwesens und seiner Werte zu lesen: Dem Cid gelingt es gerade aufgrund seiner immer wieder betonten Vortrefflichkeit als Vasall (dios, que buen vasallo!), das getrübte Verhältnis zu seinem Lehnsherrn wieder herzustellen. Damit erweist sich das feudale System als dazu in der Lage, eben durch den praktischen Vollzug der ihm eigentümlichen Werte und Normen auch Personen wieder erfolgreich auf das ideale Verhaltensraster einzuschwören, die vorher dagegen verstoßen haben. Der vortreffliche Vasall veranlasst durch sein fortgesetzt vorbildliches und treues Verhalten den Lehnsherrn dazu, ihm schließlich gleichfalls als idealer Herrscher entgegenzutreten.

Wesentlich problematischer aber als die Fragwürdigkeit bestimmter Details ist für das Buch in seiner Gesamtheit die grundsätzliche Konzeption der einzelnen Kapitel, die eine Dokumentation der Entwicklung jeden Motivs bis in die aktuelle Gegenwart vorsieht. Dies gelingt bei einigen Themenbereichen – etwa im Artuskapitel – auf sinnvolle und interessante Art und Weise, auch wenn sicherlich jeweils eine Auswahl an Rezeptionsbelegen stattfindet und die gewählten Beispiele Überlieferungskontext und aktuelles Umfeld nicht immer repräsentativ vertreten. Unklar bleibt so etwa, warum im Kapitel zur Päpstin Johanna zwar Roidis 1886 erschienener Roman „Die Päpstin Johanna von Ingelheim“ und Andersons Film „Pope Joan“ von 1972 erwähnt werden, nicht aber der weitaus aktuellere und sehr erfolgreiche Bestseller „Die Päpstin“ von Donna W. Cross.

Bei einigen anderen Themen indessen werden eine Aktualität bzw. eine fortgesetzte Rezeption und Adaption suggeriert, die so nicht existieren; dabei werden inhaltliche Parallelen gezogen, denen eine grundlegende Fehleinordnung bestimmter kultureller Phänomene zugrunde liegt. Besonders negativ fällt in diesem Zusammenhang das Kapitel zu Renart/Reineke Fuchs auf: Als späte Nachfahren Renarts werden hier unter anderem der Fuchs in Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ und Hayashis „Fuchs Kon“ aufgezählt. Während diese Zuordnung schon im Falle Exupérys mehr als fragwürdig ist – das Wesen, mit dem sich der kleine Prinz anfreundet, ist zwar ein Fuchs, weist ansonsten aber keine einzige der typischen Eigenschaften Renarts auf: Anstatt hinterlistige und boshafte Streiche auszuführen, äußert es den Wunsch nach einer ehrlichen Freundschaft („Bitte, zähme mich!“) und leidet später unter der Trennung –, ist sie im Fall der japanischen Kinderbuchautorin Akiko Hayashi schlicht absurd. In der japanischen Kultur hat der Fuchs zwar ähnlich wie in der europäischen seinen festen Platz, diese Position ist jedoch mit hoher Sicherheit frei von Einflüssen durch den „Roman de Renart“. Zugespitzt formuliert: Nicht jeder Fuchs, der in Kunst oder Literatur auftaucht, heißt Renart bzw. Reinecke, nicht jedes ähnlich erscheinende Bild geht auf den gleichen kulturellen Ursprung zurück. Insofern ist auch die Frage, die am Ende des Kapitels zum Wütenden Heer, der Mesnie Hellequin, gestellt wird, ob in der heutigen Zeit, in der es im Himmel der Sciencefiction von guten und bösen Wunderwesen nur so wimmele, nicht vielleicht doch „der eine oder andere dieser Marsbewohner ein versprengter Abkömmling der Mesnie Hellequin sein könne“, klar zu verneinen. Solange kein innerer Sinnzusammenhang zwischen zwei Bildphänomenen besteht, ist es ausgesprochen unseriös, einen solchen über reine Äußerlichkeiten zu konstruieren – es sei denn, man möchte sich mit Darstellungskonventionen befassen, was Le Goff in „Ritter, Einhorn Troubadoure“ allerdings nicht tut.

Wie wäre nun also mit dem vorliegenden Band zu verfahren? Am besten gebrauche man ihn als dekoratives Bilderbuch und erfreue sich an den aufwändigen und umfangreichen Illustrationen – von einer Lektüre ist – außer zu Unterhaltungszwecken – deutlich abzuraten.

 

Titelbild

Jacques Le Goff: Ritter, Einhorn, Troubadoure. Helden und Wunder des Mittelalters.
Übersetzt aus dem Französichen von Annette Lallemand.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
240 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3406535852
ISBN-13: 9783406535857

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