Von Menschen und Systemen

Wie man eine Supertheorie wie die Systemtheorie doch noch kritisieren kann

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Worum es in der großen, kritischen Arbeit zur Systemtheorie von Bernd Ternes geht, bringt er selbst so auf den Punkt: "Dadurch, dass sich die Theorie durch das, was sie sagt, dazu bringt, sich selbst miteinzubringen in das, über was sie etwas sagt, nämlich sich, wobei das, was sie sagt, nur zeigt, dass dadurch das ist, was sie sagt, indem darüber, wie über dieses was geredet wird, etwas ausgesagt/ausgeschieden wird, wird der Leser dazu gebracht, sich selbst miteinzubringen in das, über was er etwas liest, nämlich sich, wobei das, was er liest, nur zeigt, dass nur dadurch das ist, was er liest, indem darüber, wie über dieses darüber geredet wird, etwas ausgesagt/ausgeschieden wurde."

Wer es nicht gleich verstanden hat, der kann doch wenigstens diesen Stil als symptomatisch nehmen: Hier werden verschachtelte Selbstbezüglichkeiten, die charakteristisch sind für die Luhmannsche Systemtheorie, Im Spiel mit der Syntax inszeniert und auch parodiert. Die so kritisierte Systemtheorie wird so einer De-Konstruktion im besten, aber nicht im streng Derridaschen Sinn des Begriffes zugeführt.

Denn Ternes ist ein exzellenter Kenner der immanenten Theoriearchitektur der Systemtheorie. Er lehnt die Systemtheorie nicht einfach pauschal ab oder verfällt in Polemik, sondern er stellt ihre oft paradoxalen Selbstbezüglichkeiten sehr genau dar; und erst auf dieser Grundlage wird die Kritik entfaltet. So ist seine De-Konstruktion immer auch eine Rekonstruktion der Systemtheorie. Das Buch lässt sich daher als kritische Bilanz der Luhmannschen Theorieentwicklung lesen. Als De-Konstruktion wird jedoch diese Bilanz nur diejenigen ansprechen, seien sie nun Anhänger oder Verächter der Systemtheorie, die ihrerseits ein profundes Wissen um die Theorie der Systemtheorie besitzen.

Doch keine Angst: Sätze wie der zitierte sind dann doch die Ausnahme. Warum das Zitat dennoch symptomatisch ist für das in dieser Arbeit entfaltete Programm einer Kritik, Bilanz oder De-Konstruktion der Systemtheorie, soll kurz skizziert werden.

"Invasive Introspektion", so der Titel, bezeichnet ein Paradigma von Theorie, das nicht mehr von einer vor-theoretischen Gegenüberstellung von Theorie einerseits und Gegenstand der Theorie andererseits, von einer Welt einerseits und einer Repräsentation der Welt in der Theorie andererseits ausgeht. Statt dessen ist es die Theorie selbst, die erst hervorbringt, was sie als ihren Gegenstand behandelt, indem sie ihn behandelt. Systemtheorie ist das umfassendste, prominenteste und radikalste Beispiel für diesen Typ von Theorie.

Die Fragen, die Ternes an die Systemtheorie stellt, richten sich daher an die Konstitutionsmomente der Systemtheorie; es sind Fragen nach den Bedingungen und den Konsequenzen dieser Art von Theorie. Sie beziehen sich auf den Anspruch der Systemtheorie, Supertheorie zu sein. Supertheorien sind universalistisch und totalitär. Das heißt: Ihr Gegenstandsbereich ist prinzipiell unbegrenzt. Das bedeutet aber auch, dass diese Theorien in ihrem eigenen Gegenstandsbereich vorkommen. Diese Selbstvergegenständlichung der Theorie übt eine eigenartige Sogkraft auf die Theorie selbst aus: Supertheorien sind immer auch vorherrschend Theorien ihrer selbst. Sie sind daher immer mit Paradoxien behaftet, die sie allerdings nicht als aporetisch, sondern als äußerst produktiv in den eigenen Konstitutionsprozess einspeisen. Sie entfalten sich nicht zuletzt dadurch, dass sie über sich selbst sprechen. Und sie legen ein Raster auf ihre selbsterzeugte Welt, das blind gegenüber anderen Theorien und für diese auch nicht hintergehbar ist.

Ternes kann in vielerlei Aspekten zeigen, wie sich bei der Systemtheorie als Supertheorie aus diesen Vorgaben heraus Meta- und Objektebene verschränken. Wo die Systemtheorie mit der Differenz zwischen System und Umwelt bzw. Innen und Außen operiert, dort rückt sie sich selbst in dasselbe Differenzierungsmuster ein. Systemtheorie sieht sich als System in einer Umwelt. Doch auch die Umwelt ist eine systemtheoretische Konstruktion. Es gibt also keine Umwelt, von der aus die Systemtheorie unabhängig betrachtet werden könnte; sie besitzt somit keinen theoretischen Kontext, keinen archimedischen Punkt außerhalb ihrer selbst. Systemtheorie ist daher eigentlich unkritisierbar, weil sie innen kein Außen vorsieht, von dem aus sie kritisiert werden könnte. Man kann sie zwar ablehnen und andere Theorien bevorzugen, doch dies würde Systemtheorie nicht tangieren.

Genau an diesem Punkt setzt die De-Konstruktionsarbeit von Ternes ein. Er versucht also, in den 'Text', in das 'System' der Systemtheorie jenen 'Kontext', jene 'Umwelt' (wie es die Zwischenüberschriften kenntlich machen) einzuziehen, von der aus Kritik möglich ist. Dazu gehört eben auch der raffinierte syntaktische Stil. Er macht die Arbeit nicht lesbarer, aber er wirkt subversiv gegenüber dem anscheinend glasklar differenzierenden Diskurs der Systemtheorie. Sätze wie der obige leisten nämlich zweierlei: Sie rekonstruieren, wenn man sich die Mühe macht, sie zu entschachteln, das Problem, um das es der Systemtheorie geht, und sie zeigen gleichzeitig, wie daraus ein Problem der Systemtheorie selbst abgeleitet werden kann. Und insofern ist dieser Satz doppelt symptomatisch für die Systemtheorie: nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich. Er vollzieht damit die Verschränkung der Ebenen mit und macht sie doch durchschaubar und kritisierbar. Denn er spricht - zusammengefasst - vom Verhältnis zwischen Theorie und Mensch (als Leser der Theorie zumindest).

Daraus leitet Ternes den roten Faden seiner Kritik ab, und seine Fragen lassen sich auf eine entscheidende Gretchenfrage zuspitzen: Wie hältst du es mit dem Menschen? Oder: Welchen Sinn macht Systemtheorie für Menschen noch, wenn die Systemtheorie den Menschen - oder auch das Subjekt - aus der Theorie exiliert und den Sinn nicht mehr dem Subjekt, sondern den Systemen und ihren Operationen zuspricht? Die Radikalität dieser Subjektkritik ist Ternes zufolge nur noch mit der Jacques Lacans zu vergleichen, den er in diesem Zusammenhang ausführlich mit Luhmann konfrontiert.

Ternes sieht dabei sehr wohl die immanenten Zusammenhänge, die es für die Theorie notwendig machen, vom Verhältnis Gesellschaft-Individuum auf die Differenz z. B. von Kommunikation und Bewusstsein umzustellen und den Menschen, das Subjekt oder die Person in der Umwelt der Gesellschaft und somit auch der Theorie zu situieren. Aber er legt dennoch den Finger auf den wunden Punkt, den man auch den blinden Fleck nennen kann. Die Exilierung des Menschen aus der Systemtheorie ist für Ternes der Preis, den man für eine universelle und totalitäre Supertheorie bezahlen muss. Nur um den Preis einer solch radikalen Selbsteinschränkungen funktioniert Systemtheorie. Ternes nennt dies: "Einschränkung als Bedingung zur Erhöhung der Freiheitsgrade für die Disposition über weitere Einschränkungen".

Für denjenigen, der nicht bereit ist, diesen Preis zu bezahlen, hält Ternes ein tröstliches Schlussargument bereit: Der Ausstieg aus der Systemtheorie muss nicht den Einstieg in die Theorielosigkeit, in die Ohnmacht, Resignation oder Depression bedeuten. Was man als Verteidigung der Systemtheorie im Sinne einer Verteidigung von Theorie schlechthin anführen könnte, wendet Ternes gerade gegen Luhmann: Systemtheorie erschöpfe sich in ihrem Status als Theorie, in ihrem Charakter als Entwurf.

Was immer Ternes als Kritik äußert, das muss selbst ein Systemtheoretiker durchaus als relevant, angemessen und diskussionswürdig gelten lassen. Der Schwachpunkt der Kritik, wenn man überhaupt davon sprechen mag, liegt, seltsam genug, in der profunden Re-Konstruktion der Systemtheorie mit den Mitteln der Systemtheorie. Denn wo Ternes Luhmanns Theorie den Verlust der Überzeugung vorwirft, verliert die Kritik ihrerseits an Überzeugung, wo sie nicht deutlich macht, wie sich ein Ausstieg z. B. aus der mangelnden Leistungsfähigkeit oder Relevanz bzw. der Selbstwidersprüchlichkeit rechtfertigen könnte. Allein die Exilierung des Menschen aus der Theorie - das kann man wohl von Ternes selbst ableiten - stellt aus theorieimmanenten Gründen eben keinen solchen Anreiz zum Ausstieg dar. Und insofern leistet die Kritik Ternes' der Systemtheorie doch einen großen Dienst: Sie demonstriert nämlich das Abstraktions- und Komplexitätsniveau der Reflexion, das notwendig ist, damit eine Kritik der Systemtheorie überhaupt erst sinnvollerweise ansetzen kann.

Titelbild

Bernd Ternes: Invasive Introspektion.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
400 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3770533844

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