Von den Geschichten des Geschichtenzerstörers

Zu Alfred Pfabigans Bernhard-Monographie

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als sich am 12. Februar des Vorjahres der Todestag von Thomas Bernhard schon zum zehnten Mal jährte, war dies Anlass genug - für die Feuilletons und Kulturberichterstattung, Bernhard verstärkt zu gedenken, für die Verlage, Bernhard verstärkt zu vermarkten (in Wiederauflagen und Neuausgaben), für Zeitgenossen, ihre persönlichen Erinnerungen doch noch publik zu machen (meistens teuer aufgemacht), und schließlich auch für die Literaturwissenschaft, auf zehn Jahre posthume Rezeptions- und Forschungsgeschichte zurückzublicken. Und dieses Datum war auch Anlass, sich an einen Autor zu erinnern, dessen literarische und politische Skandale keineswegs vollständig vergessen sind. Ein Fazit lässt sich zweifellos ziehen: diese Erinnerung hat ihr Verklärungswerk schon weitgehend getan; Bernhard ist zum Klassiker avanciert - mit all jenen Folgeerscheinungen einsetzender Wirkungslosigkeit, die schon Max Frisch als Kennzeichen des Klassikers benannt hat.

Im Jahr 1999 wurde allerdings auch ein Buch zu Bernhard von dem Wiener Philosophieprofessor Alfred Pfabigan vorgelegt, das aus mehreren Gründen Aufmerksamkeit verdient. Dass es nach dem zehnten Todestag erschien, mag seinen Verkauf begünstigt haben - das wäre zu wünschen, es ist aber kein 'Jubiläumsbuch'. Es leistet auch eine Wiedervergegenwärtigung Bernhards und seines Werkes, tut es dies auf einzigartige Weise. Dieses Buch ist überhaupt die erste umfassende Bernhard-Monographie, die seit langer Zeit außerhalb des literaturwissenschaftlich-universitären Graduierungs- und Profilierungszirkus entstanden ist. Und nicht zuletzt gewinnt dieses Buch seinen teils aggressiven, teils persuasiven Impetus aus der Kritik an einer Situation heraus, in der Bernhard zum allgemeinen Kulturgut zu verkommen droht.

Er setzt sich damit radikal sowohl von der öffentlich-feuilletonistischen als auch literaturwissenschaftlichen Vereinnahmung Bernhards ab, die er als "Bernhard-Konformismus" geißelt und die zu einer "klebrige[n] Intimität" geführt, aber Bernhards Werk aus den Augen verloren habe. Es sind verschiedene, aber immanent zusammenhängende Faktoren, die diesen Konformismus ausmachen: "Die Zentrierung auf die Bernhardschen 'Übertreibungen', die 'Ein-Buch-These', die Übernahme des zeitweiligen Selbstbildes Bernhards als 'Geschichtenzertrümmerer', die Konzentration auf die in der Reflexion vorgetragene Weltsicht der Figuren, die Identifikation derselben mit dem Autor und die Dominanz des Traumas."

Für die Kritik an der Literaturwissenschaft ist insbesondere die "Ein-Buch-These" von Interesse. Sie ist dort wirksam, "wo über den 'ganzen' Thomas Bernhard mit einem Satz, mit einer Formulierung, mit einer Theorie" gesprochen, wo die Wiederholungsmanie und Wiederholungsmonotonie in den Vordergrund gerückt und jede Differenzierung und Entwicklung ausgeblendet werde. Dadurch werde zwangsläufig ein Schwergewicht auf die Reflexion der Figuren gelegt, worüber das narrative Moment, die Geschichten, die Bernhard erzählt, in den Hintergrund treten oder gänzlich vergessen werden. Und dies erfahre auch noch eine quasi-poetologische Bestätigung durch Bernhard selbst, wenn dieser im "Drei-Tage"-Interview sich selbst als 'Geschichtenzerstörer' bezeichnet.

Demgegenüber geht es dem Pfabigan gerade darum, die erzählten Geschichten der Einzeltexte zu rekonstruieren, um das "österreichische Weltexperiment", das sich nach seiner Überzeugung in diesem Werk in erster Linie narrativ entfaltet, offenzulegen. Er wählt dazu "ein Mittel, das diskreditiert ist durch den Schulunterricht" (und in der Literaturwissenschaft so gut wie gar nicht vorkommt), nämlich "die einfache Nacherzählung mit dem Ziel der Erfassung der gesamten Geschichte". Dass er deswegen die Forschungsliteratur kaum zur Kenntnis nimmt und nicht diskutiert, ist aus der Logik dieser Vorgehensweise her nur konsequent. Ein Literaturwissenschaftler, an den Jargon des Forschungsberichts gewöhnt, mag das vermissen; ehrlich gesagt, für das Buch ist dies auch gar nicht notwendig.

In der Tat werden im Durchgang des Buches über seine beiden Teile und über insgesamt 17 Kapitel hinweg die Geschichten aller wichtigen (epischen) Texte Bernhards detailgenau nacherzählt und kommentiert. Man darf sich nicht täuschen lassen: was als Nacherzählung bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit ein elaboriertes Verfahren der Textrepräsentation, das die je spezifischen Problemkomplexe sowohl in ihrer Eigenheit als auch in ihrem Werkzusammenhang darbietet und durchsichtig macht.

Doch hier wird das Zusammenspiel von Absetzung gegenüber dem Konformismus und eigenem Impetus diskussionswürdig. Denn auch dieses Verfahren nimmt den Gesamttext, also 'den ganzen Bernhard' als letzten Bezugsrahmen. "Der Gesamttext ist mehr als die bloße Summe der 'Einzeltexte'". Man muss es Pfabigan zugute halten, dass dieser Gesamttext als Folie, auf die die Einzeltexte projiziert werden, erst zur Verfügung steht, nachdem man mit diesem Verfahren die Geschichten der Einzeltexte rekonstruiert hat. Er spricht dabei von Ordnungen, die sich "in der Abfolge des Gesamttextes" allmählich aufbauen. Dennoch ist das Verhältnis zwischen Einzel- und Gesamttext deutlich: Der Einzeltext ist integraler Bestandteil des Gesamttextes, und der Gesamttext bietet den "Schlüssel zu den 'Lücken' des 'Einzeltextes'".

Es scheint eine unumgängliche Interpretationsvoraussetzung für Bernhard zu sein, dass man um diesen Gesamttext, also um das 'Eine Buch' nicht herumkommt. Es ist nicht die Abkehr von der Ein-Buch-These, die die Innovation der vorliegenden Arbeit ausmacht, sondern ihre narrativ orientierte und fundierte Reformulierung. Damit kein Missverständnis aufkommt: auch damit ist viel geleistet, denn der narrative Bezug des Einzeltextes auf den Gesamttext erlaubt es, den Einzeltext in seiner spezifischen narrativen Bedeutung zu erkennen und ihn in diesem Rahmen wieder in sein - sowohl ästhetisches wie auch werkgeschichtliches - Recht einzusetzen.

Im Rahmen des Gesamttextes unterscheidet der Verfasser zwischen "zwei thematisch abgegrenzte[n] Werkblöcken", einem 'chtonischen' und einem 'apollinischen'. Zum ersten Werkblock gehören jene Texte, die den unheilvollen Einfluss von Natur und Weiblichkeit (insbesondere der Mutter) auf den Protagonisten thematisieren, im anderen Werkblock wird die Lebensform des Geistesmenschen abgehandelt. Die Werkblöcke sind thematisch getrennt, sie entsprechen nur bedingt einer Werkchronologie. Zum Teil sind die Werkblöcke auch in einem Text miteinander verwoben, wie in der "Korrektur" und in der "Auslöschung".

Die Darstellungsfolge der Einzeltexte reicht von ersten Roman "Frost" bis hin zu den 'letzten' Texten (im epischen Bereich), der zuletzt publizierten "Auslöschung" und den vermutlich zuletzt geschriebenen "Alten Meistern". Sie orientiert sich grob an der Werkchronologie, läßt den (generell späteren) apollinischen Werkblock dem chtonischen (entsprechend der Zweiteilung der Arbeit) folgen, entfaltet aber in erster Linie einen Spannungsbogen für jeden Werkbereich von der Problemexplikation hin zu den Lösungsmodellen.

Für jeden Text wird jeweils spezifisch eine Problemkonstellation des Protagonisten herausgearbeitet, die sich allerdings von Text zu Text nachverfolgen lässt. So wird gezeigt, wie diese Problemkonstellation, z. B. der negative Einfluss der Mutter auf den Protagonisten oder die familiäre und ökonomische Erblast der Familie, die immer zugleich als soziale, historische und politische Erblast zu verstehen ist, von Text zu Text neue, vielfach schärfere Konturen gewinnt, wie sich aber auch Lösungsmodelle herausbilden und schließlich in den "idealtypischen Endfiguren der beiden Werkblöcke", Murau und Reger, zur Vollendung kommen.

Dieses Buch ist nicht (nur) für Literaturwissenschaftler geschrieben. Es gibt der Literaturwissenschaft allerdings die Fragen und Aufgaben nach einer Neubewertung des Verhältnisses von Einzel- und Gesamttext in Bernhards Werk und nach einer verstärkten Berücksichtigung des 'Erzählers' Bernhard auf. Darüber hinaus gewinnt sein Verfahren letztendlich eine Textnähe zurück, die begeistert und fasziniert. Dieses Buch kann auch dem nicht literaturwissenschaftlichen Bernhard-Leser dessen Werk auf eine bis dahin ungeahnte Weise nahebringen, mit einer verblüffenden Genauigkeit für erzählerische Details, aber dennoch problemorientiert und mit einem Spannungsbogen über das Gesamtwerk hinweg. Und insofern hat Pfabigan recht, wenn er vorgreifend resümmiert: der 'Gesamttext' als solcher gelesen, begünstigt eine spekulative neue Sichtweise auf die Bernhard-Welt, die rückblickend auf einmal wie ein von langer Hand geplantes Literaturunternehmen wirkt.

Es ist das Gesamtwerk, das 'Eine Buch', das die eine, wenn auch unbestreitbar vielschichtige Bernhard-Welt entfaltet. Der eine Satz, die eine Formulierung, die eine Theorie, und ich möchte hinzufügen: die eine intertextuelle Bezugnahme werden nicht ausreichen, um diese Welt zu erfassen. Aber es werden immer auch Sätze, Theorien und Bezugnahmen notwendig sein, die sich auf das Gesamtwerk beziehen lassen. Und die Aufgabe einer ausdifferenzierten Systematik ist noch nicht einmal richtig begonnen worden.

Doch unabhängig von der Literaturwissenschaft darf eines nicht unerwähnt bleiben. So spannend und detailgenau dieses Buch geschrieben ist, eignet es sich nicht zuletzt als Reiseführer, mit dem der Leser seine Lektürereise durch die weltliterarische einzigartige Bernhard-Welt planen, begleiten und noch einmal Revue passieren lassen kann.

Titelbild

Alfred Pfabigan: Thomas Bernhard.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 1999.
450 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3552049215

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