An der Zielgruppe vorbei

Matthias Bauer führt in die Romantheorie und Erzählforschung ein

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman ist "stets ein hybrides Gebilde und ein Laboratorium des Erzählens gewesen, in dem Autoren und Leser die Probe auf das Exempel der Schreibweisen und Lesarten machen konnten, die ihre Kultur und Mentalität bestimmen", erklärt Matthias Bauer in der Einleitung zu seiner Einführung "Romantheorie und Erzählforschung", die 2005 aktualisiert und ergänzt in zweiter Auflage erschienen ist. Aus der 'weltbildnerischen Funktion' des Romans folgt für ihn, dass sich die Theoriegeschichte des Romans und die Erzählforschung engführen lassen. Damit wird der Darstellung des weiten Felds der Narratologie eine klare historische wie systematische Linie zugrunde gelegt, die zunächst einmal als positive Blickverengung zu werten ist - zumal der Autor in seinem Vorwort ankündigt, seine Aufmerksamkeit eben nicht nur auf Theorien der literarischen Kommunikation bzw. die Poetik des Romans zu richten, sondern auch auf "Querbezüge" einzugehen, "die zwischen der Erzählforschung und den kultur- und medien- und kognitionswissenschaftlichen Untersuchungen" bestehen.

Die ersten beiden Kapitel sind der "Entwicklungsgeschichte der Romantheorie" und Ansätzen zur Erzählperspektive, ebenfalls unter einem entwicklungsgeschichtlichen Zugriff, gewidmet. Vorgestellt werden jeweils Ansätze prominenter Autoren - von den antiken 'Vorläufern' bis zu Umberto Eco, von Stendhal bis Gérard Genette - und divergierende theoretische Überlegungen zum Roman bzw. zur Literatur mit Blick auf die zentralen Fragen und Herausforderungen, denen sich die Autoren zuwenden. Gerade in den Ausführungen des zweiten Teils, also dem Kapitel "Von der Spiegel-Metapher zum Focus-Konzept - Diskussion der Erzählperspektive", das point of view, die Mittelbarkeit des Erzählens, Franz K. Stanzels typische Erzählsituationen und deren Kritik, das Focus-Konzept, die Tempus-Paradoxien u. a. m. behandelt, schafft Bauer Vernetzungen zwischen den einzelnen Unterkapiteln, indem er problemorientiert argumentiert. Er schärft dabei auch den Blick für neuere Entwicklungen der Theoriediskussion. Allerdings sind einige weniger prägnante und leider auch fehlerhafte Ausführungen in der neuen Ausgabe nicht verbessert worden: Friedrich Spielhagen etwa plädiert nicht, wie Bauer behauptet, für den Er-Roman, sondern für den Ich-Roman als diejenige Gattung, die das Objektivitätspostulat besser erfülle. Dies mutet zweifelsohne paradox an, folgt jedoch aus Spielhagens produktionsästhetischer Vorstellung von einer mehrfachen Wandlung der persönlichen Erfahrungen des Autors im Prozess des Schreibens. Daher erkennt er dem Ich-Roman (trotz vielfältiger Kritikpunkte) letztlich den Vorteil zu, den Leser nicht mit zwei 'Personen' - dem Helden und dem Dichter-Erzähler (beides fällt für Spielhagen noch zusammen) - zu konfrontieren.

Gegen diese Unterscheidung wendet sich dann, wie Bauer auch darstellt, Käte Friedemann, indem sie die Mittelbarkeit als grundsätzlich konstitutives Moment des Erzählens (das also gleichermaßen den Ich- und Er-Roman betrifft) aufzeigt. Dabei wäre es schön gewesen, wenn Bauer in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen hätte, dass sich die Unterscheidung von Autor und Erzähler, die im deutschsprachigen Raum Wolfgang Kayser etabliert hat, auch schon bei Käte Friedemann (1910) findet.

Andere Ausführungen wirken vielleicht eher durch ihre Kürze verwirrend, etwa wenn es zu den Erzählinstanzen bei Genette heißt: "Sind verschiedene Geschichten ineinander verschachtelt, so kann man weiterhin eine Unterscheidung zwischen extra- und intradiegetischen Erzählungen treffen, je nachdem, ob mit dem Einschub auch eine andere narrative Instanz eingesetzt wird oder nicht." Hier werden auf knappestem Raum gleich mehrere Aspekte unglücklich ineinander 'verschachtelt': Extra- und intradiegetische Ebenen sind nicht mit den offenbar hier gemeinten Rahmen- und Binnenerzählungen gleichzusetzen, sondern bezeichnen das Verhältnis zwischen dem Akt der Narration (extradiegetischer Erzähler) und der von ihm erzählten Geschichte (intradiegetisch), von dort aus können sich weitere diegetische Ebenen öffnen (metadiegetisches Erzählen, das Genette daher auch eine Erzählung zweiter - und eben nicht dritter - Ebene nennt). Die metadiegetische Erzählung, auf die Bauer sich hier eigentlich bezieht, muss nicht mit einem Wechsel der narrativen Instanz verbunden sein, da diese auch durch einen Traum oder die Beschreibung eines Gemäldes u. a. eröffnet werden kann - daher kann sie Genette unter anderem auch als Variante einer explikativen Analepse bezeichnen. Im Zusammenhang mit dem Aspekt des unzuverlässigen Erzählens erweckt Bauers Darstellung den falschen Eindruck, es gäbe gar keine Textsignale, an denen sich unzuverlässiges Erzählen feststellen ließe, da dies in erster Linie im Zusammenhang mit einer unkritischen Darstellung von Booth' Begriff des impliziten Autors (und zusätzlich einigen Anmerkungen zur Gattung des Schelmenromans, die sich an mehreren Stellen der Einführung finden) verhandelt wird.

Die beiden letzten Kapitel des Buchs, in denen sich die entscheidenden Ergänzungen gegenüber der ersten Auflage finden, wirken dagegen nicht nur auf den ersten Blick verwirrend: Dem "formalistischen" Ansatz folgt der "dialogische", der "pragmatische", der "morphologische", dann der "strukturalistische", der "narratologische", "phänomenologische" und der "semiologische". Eine zumindest kurze einführende Bemerkung, worauf sich diese Systematik stützt und wie sich die einzelnen Ansätze zueinander verhalten, fehlt. Da innerhalb der Kapitel auch einzelne systematische Aspekte diskutiert werden - des Modus, der Zeit, aber auch der Intertextualität, die sich unter der Überschrift: "Zitat und Paragramm" findet -, und zugleich vielfach der engere Fokus einer literarische Texte perspektivierenden Theorie verlassen wird, erschließt sich der Vorteil dieser Gliederung nicht.

Das Verständnis systematischer Zusammenhänge jedoch wird hier erschwert statt erleichtert: Auch wenn Lämmerts "Bauformen des Erzählens" dem morphologischen Ansatz insofern 'verpflichtet' sein mag, als Lämmert, wie Bauer schreibt, an Günter Müller anknüpft, scheint es doch zweifelhaft, wieso die Darstellung der Zeitordnung des Erzählens ausschließlich unter dem morphologischen Ansatz ihren Ort haben sollte. 'Showing' und 'telling' werden unter der Überschrift "narratologische Ansätze" abgehandelt, während Erzählschemata offenbar nicht darunter fallen. Die Gliederung, die sich auch hier wieder einem entwicklungsgeschichtlichen Ansatz im weiteren Sinne verdankt, stößt eindeutig an ihre Grenzen. Im Grunde konterkariert sie den Charakter der Einführung. Sie müsste zumindest in anderer Weise begründet werden und systematische Vernetzungen müssten wesentlich stärker herausgearbeitet werden.

Darüber hinaus ist die Auswahl der im letzten Kapitel "Neue Herausforderungen der Erzählforschung" besprochenen Ansätze eng. Es nutzt die Möglichkeit, die interdisziplinären Qualitäten der Erzählforschung herauszustellen, kaum. Gerade angesichts der Tatsache, dass mehrfach die 'Hybridität' des Romans angesprochen wird, wäre hier zu erwarten gewesen, dass neben einigen verstreuten Auslassungen zum Film Fragen nach der Adaptation erzähltheoretischer Ansätze in anderen Gattungen diskutiert würden. Neuere Entwicklungen wie die kognitivistische Wende in der Erzählforschung werden zwar benannt, die Auswahl "Szenographie und Kognitive Poetik", "Habitus, Feld und Diskurs" sowie "Medienphilosophie und Kulturanthropologie" bietet aber in der Zusammenstellung kein schlüssiges Bild.

Dabei entstehen auch in diesem Teil wieder missverständliche Verknüpfungen, etwa wenn im Kapitel über Foucault vom Machtbegriff auf die Literatur als "Gegendiskurs" übergeblendet und damit der Eindruck erweckt wird, als wäre dies die bei Foucault dominante Auffassung von der Funktion der Literatur, während dieser gerade das Eingebundensein von Literatur in Diskursregeln pointiert, um auf dieser Basis nach möglichen Spielräumen der Darstellung zu fragen (in denen Potentiale eines "Gegendiskurses" liegen können).

Worüber sich die Leser schließlich am meisten wundern dürften ist die Tatsache, dass der Band kaum Hilfsmittel zur Lektüre, zur Erschließung der wichtigsten Problemkomplexe und der verwendeten Terminologie an die Hand gibt. Schon in Bezug auf das Inhaltsverzeichnis ließe sich in dem einen oder anderen Fall sicher ein entsprechender Titel finden, der die Orientierung erleichterte. Vor allem aber fehlt ein brauchbares Register der erzähltheoretischen Begriffe, das den Zugriff auf die Theorien jenseits der theoriegeschichtlichen Disposition des Bandes erst ermöglichte. Das Glossar ist dafür nicht nur quantitativ kein Ersatz, da - etwa im Unterschied zur weit verbreiteten Einführung in die Erzähltheorie von Matias Martinez und Michael Scheffel - es keine Seitenzahlenverweise auf den Text enthält und leider oft noch nicht einmal einen Namen erwähnt - z. B. 'Stanzel', wenn die "auktoriale Erzählsituation" erklärt wird, 'Derrida', wenn "Iterabilität" erläutert wird u.s.w. Dies aber wäre mindestens nötig, damit man über den Umweg des Namensregisters wenigstens auf die entsprechende Textstelle stoßen könnte.

So aber kann man die meisten Glossareinträge nur dann mit dem Text vernetzen, wenn man schon weiß, welchem Autor oder welcher Theorie ein Begriff zugeordnet werden kann - aber auch dies ist, etwa bei der im Glossar erwähnten "Metalepse", keineswegs immer ein erfolgreiches Vorgehen. Die Möglichkeit, über ein Schlagwortregister Begriffe in - zumeist ja mehrere - erzähltheoretische Zusammenhänge einordnen zu können, wird verschenkt. Dies mindert den Gebrauchswert für Studierende, die Orientierung im Dickicht der undurchschaubar erscheinenden narratologischen Terminologie suchen, ganz erheblich.

Festzuhalten ist, dass Bauers Einführung gerade in den ersten beiden Kapiteln grundlegendes Wissen solide vermittelt und in zusammenfassenden Überblicken eine problemorientierte Darstellung bietet. Außerdem liegen einzelne der genannten Kritikpunkte sicherlich in der 'Natur der Sache', d. h. einer bewussten Entscheidung für einen entwicklungs- und auch wissenschaftsgeschichtlichen Zugriff und der Fülle des Materials, deren Darstellung nur über eine pointierte Auswahl angemessen zu bewältigen ist.

Es bleiben aber konzeptionelle Kritikpunkte, die den grundsätzlichen einführenden Charakter betreffen. Aufgrund seiner unklaren Strukturierung und fehlender Hilfsmittel lässt sich die Einführung nur eingeschränkt als eine gute Handreichung für Studierende bezeichnen. Es steht zu hoffen, dass künftige Auflagen noch einmal mit klarem Blick für die konkreten Bedürfnisse der Zielgruppe bearbeitet werden. Nur dann könnte Matthias Bauers Einführung seinen Platz in der akademischen Lehre finden.


Titelbild

Matthias Bauer: Romantheorie und Erzählforschung. Eine Einführung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2005.
253 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3476020797

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